Ein neues Forschungsprojekt des Verfassungsblogs soll offene Flanken der Justiz ausmachen, die autoritäre Populisten für sich nutzen könnten. Projektleiter Friedrich Zillessen erklärt im Gespräch, warum die Öffentlichkeit dabei eine zentrale Rolle spielt.
beck-aktuell: Herr Zillessen, Sie wollen mit dem Verfassungsblog – nachdem Sie im Rahmen Ihres Thüringen-Projekts die Schwachstellen demokratischer Institutionen in Thüringen untersucht haben – nun herausfinden, wie verwundbar die deutsche Justiz für Angriffe von autoritären Populisten ist. Was genau steckt hinter dem neuen Forschungsvorhaben "Justiz-Projekt"?
Zillessen: Im Justiz-Projekt wollen wir Schwachstellen in der deutschen Justiz untersuchen, auf Länder- wie auch auf Bundesebene. Im Rahmen des Thüringen-Projekts haben wir die Erfahrung gemacht, dass es durchaus sinnvoll sein kann, sich die Frage zu stellen: Was wäre, wenn autoritär-populistische Akteure staatliche Machtmittel in die Hand bekämen, und was könnten sie damit tun, um ihre Macht auszubauen und zu konsolidieren? Für den Aufstieg solcher Akteure, das zeigen uns viele Beispiele aus dem Ausland, ist die Justiz ein wichtiger Baustein.
beck-aktuell: Wie gehen Sie denn bei ihrer Untersuchung vor? Arbeiten Sie mit externen Expertinnen und Experten zusammen?
Zillessen: Wir schauen uns zuerst einmal an, was in anderen Ländern bereits passiert ist. Da gibt es in verschiedensten Staaten der Welt eine sehr umfangreiche wissenschaftliche Aufarbeitung der Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz. Im zweiten Schritt versuchen wir, das auf die deutsche Rechtsrealität zu übertragen. Dazu führen wir Interviews mit Expertinnen und Experten sowie mit Entscheidungsträgerinnen und -trägern – Leuten, die vor Ort sind. Das hat sich im Thüringen-Projekt als eine sehr gute Methode erwiesen.
"Die Justiz ist angreifbar, kann aber auch ein enormes Machtinstrument sein"
beck-aktuell: Welche Länder schauen Sie sich dabei insbesondere an?
Zillessen: Es gibt zum einen die Fälle, von denen mittlerweile viele gehört haben, etwa Polen oder Ungarn. Doch es gibt noch viel mehr aktuelle Beispiele: Mexiko ist ein sehr interessanter Fall, weil die Justizreform, die im letzten Jahr dort verabschiedet wurde, vielleicht noch extremer ist als das, was in Polen und Ungarn passiert ist. Dort sollen über 1.600 Bundesrichterinnen und -richter auf einen Schlag entfernt und ab sofort vom Volk gewählt werden. Auch die Justizverwaltung, die u.a. für Disziplinarverfahren zuständig ist, wird von Grund auf neu organisiert.
Ein aktuell hochspannender Fall für die Rolle der Justiz in einem Autokratisierungsprozess sind aber natürlich die USA, wo viele Gerichte gerade dafür kämpfen, dass sich die Regierung an Recht und Gesetz hält. Gleichzeitig wird die Frage immer drängender: Was passiert eigentlich, wenn eine Regierung das nicht mehr tut, sondern exekutiven Ungehorsam praktiziert?
beck-aktuell: Wenn man diese Beispiele aus dem Ausland betrachtet, ist die Justiz immer ein Ziel autoritärer Bestrebungen. Wie bedeutsam ist sie als Hindernis für Verfassungsfeinde?
Zillessen: Dass die Justiz stets eines der ersten Opfer in Autokratisierungsprozessen ist, zeigt, wie bedeutend sie für eine funktionierende liberale Demokratie ist. Auf der einen Seite kann sie Autokratinnen und Autokraten Steine in den Weg legen, indem sie ihre Funktion erfüllt, Recht zu sprechen. Im gewaltenteiligen Rechtsstaat kann sie die Machtanmaßung von autoritären Populistinnen und Populisten sehr wirksam begrenzen und offenlegen, dass es häufig nur eine scheinbare Rechtmäßigkeit ist, mit der sie agieren. Auf der anderen Seite kann die Justiz, wenn sie einmal gekapert ist, auch ein enormes Machtinstrument sein, mit dem man autoritäre Herrschaft begründen und legitimieren kann.
Gleichzeitig ist es so, dass Gerichte und die unabhängige Justiz als schwache Gewalt gelten, weil sie in besonderem Maße darauf angewiesen sind, dass ihre Entscheidungen und ihre Tätigkeit von den anderen Akteuren der Verfassungsordnung geachtet werden. Das macht sie besonders angreifbar.
"Öffentliche Delegitimierung der Justiz ist ganz entscheidend"
beck-aktuell: Haben Sie bereits Risiken und Schwachpunkte in der deutschen Justiz identifiziert, die Sie im Besonderen untersuchen wollen?
Zillessen: Wir versuchen natürlich, Schwachstellen so umfassend wie möglich zu analysieren. Dabei werden wir auf jeden Fall die Landesverfassungsgerichte in den Blick nehmen. Zwei weitere wichtige Schwerpunkte sind die Gerichtsorganisation und das Gerichtspersonal.
beck-aktuell: Das heißt, es geht auch um den Einfluss von Verfassungsfeinden innerhalb der Justiz?
Zillessen: Genau, das fängt mit der Juristenausbildung an und geht weiter mit der Ernennung und Beförderung von Richterinnen und Richtern. Zudem geht es um die Frage, wie man einzelne Leute an bestimmte Gerichte bringen kann, wie man Anreize schaffen und innerhalb dieses Systems Einfluss nehmen kann. Am anderen Ende steht dann die Frage, wie eine verfassungsfeindlich eingestellte Regierung missliebige Richterinnen und Richter loswerden könnte, etwa über Altersregelungen, Disziplinarverfahren oder Abordnungen.
beck-aktuell: Richterinnen und Richter können auch enormem öffentlichen Druck ausgesetzt werden. Ein Beispiel dafür ist das Hamburger-Stadtpark-Urteil: Eine Richterin wurde im Internet massiv angefeindet und bedroht, weil sie in den Augen vieler in einem Vergewaltigungsfall zu milde geurteilt hatte. Sogar der AfD-Politiker Björn Höcke soll ein Foto von ihr auf seiner Facebook-Seite gepostet haben. Spielt das in Ihrer Untersuchung auch eine Rolle?
Zillessen: Auf jeden Fall, diese Art der Delegitimierung der Justiz ist absolut entscheidend. Wir sehen im Ausland, dass Delegitimierungsstrategien häufig weitere Angriffe auf die Justiz vorbereiten, begründen und begleiten. Ein gutes Beispiel ist wieder Mexiko, wo die Regierung es geschafft hat, einen Großteil der Bevölkerung davon zu überzeugen, dass eine Justizform notwendig sei, weil man die Gerichte mit Korruptions- und Nepotismusvorwürfen überzogen und so ihre Glaubwürdigkeit zerstört hat.
Das war auch ein Punkt, der uns dazu bewogen hat, nach dem Thüringen-Projekt mit dem Justiz-Projekt weiterzumachen: In Thüringen haben wir gesehen, wie nach der konstituierenden Sitzung des Landtags und dem Machtmissbrauch des AfD-Alterspräsidenten das darauffolgende Urteil des Thüringer VerfGH von der AfD sehr zielgerichtet ausgenutzt wurde, um das Gericht zu diffamieren und zu delegitimieren. Es gab verbale und rechtliche Angriffe auf zwei Mitglieder, denen eine Parteizugehörigkeit und ein Verwandtschaftsgrad zu einem Abgeordneten im Thüringer Landtag vorgeworfen wurden. Das sind häufig die ersten Schritte, um die Glaubwürdigkeit der Justiz zu schwächen.
"Die Justiz ist auf die Folgsamkeit der anderen Gewalten angewiesen"
beck-aktuell: Das Problem liegt ja darin begründet, dass die rechtsprechende Gewalt von ihrer Akzeptanz lebt und diese wiederum durch die Öffentlichkeit im wesentlichen Maße bestimmt wird. Inwiefern kann eine weitere rechtliche Absicherung da tatsächlich Schutz bieten?
Zillessen: Man kann sich als liberale Demokratie mit rechtlichen Mitteln nie zu 100% gegen Angriffe von autoritären Populisten absichern. Ich glaube, es gibt in Deutschland mitunter einen zu starken Glauben an Institutionen und an das Recht, das uns sichern kann. Aber das funktioniert nicht. Und das sieht man in der Justiz ganz besonders, weil sie auf Autorität und die Folgsamkeit der anderen Gewalten angewiesen ist.
Gleichzeitig gibt es manche Einfallstore, die man schließen kann. Und das sollte man auch tun. Wir haben schon im Rahmen des Thüringen-Projekts Vorschläge diskutiert, wie man den dortigen VerfGH besser schützen könnte – genau für den Fall, dass eine Sperrminorität ihre Macht dazu missbrauchen könnte, Richterwahlen zu blockieren – das sehen wir nun nach den Landtagswahlen. Nun versucht die AfD durch ihre Blockaden, Entscheidungen an anderer Stelle zu erpressen. Bis zum Ende der Legislaturperiode müssen alle ordentlichen Mitglieder des Thüringer Verfassungsgerichtshofes nachbesetzt werden. Wenn die Nachbesetzung also weiterhin blockiert wird, wird die demokratische Legitimität des Gerichts enorm beschädigt. Aber auch in der einfachen Justiz blockiert die AfD zurzeit Ernennungen auf Lebenszeit. Und das, wo in der Thüringer Justiz bis 2030 von 800 Richterinnen und Richter immerhin 238 in Rente gehen, also wahnsinnig viele Stellen nachbesetzt werden müssen. Das wird aus demografischen Gründen sowieso eine Herausforderung für Justiz und Rechtsstaat. Vor allem aber kann die AfD auf diesem Weg sehr wirksam ihr selbstgeschaffenes Narrativ betreiben, dass der Rechtsstaat zu langsam und nicht effektiv sei.
beck-aktuell: Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund die kürzlich beschlossene Absicherung des BVerfG? Ist das ein Schritt in die richtige Richtung?
Zillessen: Prinzipiell ist es begrüßenswert, dass einige Regeln in das Grundgesetz überführt wurden. Das kann auch ein Beispiel für die Länderebene sein, um manche Verfassungsgerichte in abgewandelter Form besser vor Sperrminoritäten zu schützen. Auf der anderen Seite muss man aber auch sehen, dass das BVerfG noch viel wirksamer hätte geschützt werden können, wenn man das BVerfGG zu einem zustimmungsbedürftigen Gesetz gemacht oder die Zweidrittelmehrheit, die für die Verfassungsrichterwahl nötig ist, mit ins Grundgesetz überführt hätte. Schon einer dieser beiden Schritte hätte nochmal einen deutlichen Resilienzschub ermöglicht.
Am Ende gilt: Man kann die Gerichte nie vollends schützen. Sie sind immer ein Stück weit auf ungeschriebene Normen und das Verhalten von anderen Akteuren und vor allem der Öffentlichkeit angewiesen. Letztere hat da eine besondere Schutzfunktion, wie das Beispiel Israel zeigt, wo eine starke Protestbewegung die fragwürdige Justizreform der Regierung vorerst verhindert hat.
beck-aktuell: Wann ist mit Ergebnissen ihres Projekts zu rechnen?
Zillessen: Wir wollen unsere Ergebnisse noch in diesem Jahr zu präsentieren. Wann und wie genau, das wird derzeit noch geplant.
beck-aktuell: Werden Sie die Ergebnisse auch mit einem Appell an die Politik verbinden, wie Sie es im Thüringen-Projekt getan haben?
Zillessen: Das Ziel ist zunächst einmal, Wissen zu generieren, damit es da ist, wenn wir es einmal brauchen sollten. Es gibt daher nicht eine spezielle Zielgruppe, die wir ansprechen wollen. Das Projekt soll sich genauso an eine fachwissenschaftliche Community richten wie an die politische Öffentlichkeit und die Politik selbst.
beck-aktuell: Herr Zillessen, vielen Dank für das Gespräch!
Friedrich Zillessen ist Jurist und Redakteur beim Verfassungsblog. Er leitet das Justiz-Projekt.
Die Fragen stellte Maximilian Amos.