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Punkte verdoppelt im Zweiten Staatsexamen: Kein Anscheinsbeweis für eine Täuschung

BVerwG
Knapp fünf Punk­te im Ers­ten, aber zehn im Zwei­ten Ex­amen – und das, wäh­rend ge­kauf­te Lö­sungs­skiz­zen kur­sier­ten. Das OVG Lü­ne­burg ging den­noch nicht von einem Täu­schungs­ver­such aus. Jetzt bil­ligt auch das BVer­wG der Frau, die nah dran war am Skan­dal um den kor­rup­ten Rich­ter Jörg L., ihr Ex­amen zu.

Der Fall hatte für Schlagzeilen gesorgt. Ein Richter und Referatsleiter des Landesjustizprüfungsamts (LJPA) Niedersachsen hatte bis 2014 vorab die Lösungsskizzen für Examensklausuren des Zeiten Staatsexamens an Prüflinge verkauft und dafür mit einem Repetitor kooperiert, der für ihn Kunden akquirieren sollte. Damals wurden zahlreiche Klausuren überprüft und einige Rechtsstreitigkeiten geführt. Eine davon schaffte es jetzt bis zum BVerwG.

Ob zur Kundschaft der beiden korrupten Juristen auch die jetzige Klägerin und damalige Examenskandidatin gehörte, der es gelungen war, ihre Noten im Vergleich zum ersten Examen eklatant zu verbessern, hatte als Berufungsgericht im April 2024 das OVG Lüneburg zu entscheiden (Urteil vom 30.4.2024 – 2 LB 69/18). Es stellte sich auf die Seite der damaligen Examenskandidatin und sah nicht genug Anhaltspunkte dafür, dass sie die Lösungsskizze vorab gekannt und deshalb getäuscht habe. Bei diesem Urteil bleibt es: Das BVerwG wies die Nichtzulassungsbeschwerde des Prüfungsamtes zurück (Beschluss vom 20.01.2025 - 6 B 20.24). Ihr 10-Punkte-Examen kann der Juristin jetzt niemand mehr nehmen.

OVG: Nicht genug Übereinstimmung zwischen Klausur und Lösungsskizze

In dem Beschluss des BVerwG ging es um die Beweiswürdigung des OVG. Während das LJPA Niedersachsen und nachfolgend das VG Lüneburg der Juristin ihr Examen nachträglich aberkannt hatten, zeigte das OVG Lüneburg durchgreifende Zweifel daran, dass die Examenskandidatin die Lösungsskizze vorab gekannt und demnach in der Klausur getäuscht habe.

Insbesondere sah das OVG eine Täuschungshandlung der Examenskandidatin nicht nach den Regeln des Anscheinsbeweises als bewiesen an. Danach kann eine Tatsache prima facie als bewiesen gelten, wenn sie auf einen typischen Sachverhalt gestützt werden kann, der aufgrund allgemeinen Erfahrungswissens zu dem Schluss berechtigt, dass die Tatsache vorliegt. Zudem dürfen keine tatsächlichen Umstände gegeben sein, die ein atypisches Geschehen im Einzelfall ernsthaft als möglich erscheinen lassen.

Die Folge wäre eine Beweislastumkehr gewesen – die Juristin hätte also beweisen müssen, dass sie nicht betrogen hat. In dem Fall war das OVG allerdings der Meinung, dass die Übereinstimmung mit der Lösungsskizze bei der Frau nicht weitreichend genug gewesen war, um von einem Anscheinsbeweis auszugehen. Denn nur bei weitgehender Übereinstimmung sei es gerechtfertigt, von einem typischen Geschehensablauf auszugehen. Auch dass die Frau ihren Examensschnitt der ersten juristischen Prüfung auf mehr als das Doppelte hatte anheben können, änderte für die Richterinnen und Richter nichts.

BVerwG: OVG blieb innerhalb des Wertungsrahmens

Hat das OVG damit die Anforderungen an den Anscheinsbeweis überstrapaziert? Nein, meint das BVerwG. Dass das OVG keine Revision zugelassen hat, befand der 6. Senat vielmehr für richtig. Die allgemeinen Voraussetzungen für die Anwendung des Anscheinsbeweises im Verwaltungsprozess seien geklärt, grundsätzliche Bedeutung habe die Sache nicht.

Auch einen Verfahrensmangel konnte das BVerwG nicht feststellen. Insbesondere habe das OVG seinen durch den Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) eröffneten Wertungsrahmen nicht dadurch verlassen, dass es hohe Anforderungen an die Übereinstimmung zwischen Klausur und Lösungsskizze gestellt habe.

Der spektakuläre Fall von Richter Jörg L.

Ihr Examen nimmt der Volljuristin nun niemand mehr weg. Dass sie die Lösungsskizze vorab gekauft hat, konnte man ihr jedenfalls nicht nachweisen. Dabei war es 2014 genau die Art von Übereinstimmung zwischen Examensklausuren und Musterlösung gewesen, die das Niedersächsische LJPA misstrauisch gemacht hatte. Das und die Tatsache, dass ungewöhnlich viele Prüflinge mit Prädikat abgeschlossen hatten, hatte die Behörde damals veranlasst, die Sache an die Staatsanwaltschaft zu übergeben.

Die Spur führte zu Jörg L., damals Richter und leitender Beamter im niedersächsischen JPA. Laut einem Spiegel-Bericht soll er bis zu 20.000 Euro für eine Lösungsskizze genommen haben, weibliche Referendarinnen hätten auch mit Sex zahlen können. Und es ging noch weiter: Jörg L. floh und versuchte zunächst, sich der Verhaftung zu entziehen. Er wurde schließlich von italienischen Behörden in Mailand aufgegriffen– in einem Hotelzimmer, mit 30.000 Euro in bar, einer geladenen Waffe und in Begleitung einer rumänischen Sexarbeiterin.

2015 verurteilte das LG Lüneburg Jörg L. zu fünf Jahren Haft unter anderem wegen Bestechlichkeit und Verrats von Dienstgeheimnissen (Urteil vom 26.02.2015 - 33 KLs 20/14). Das Verfahren gegen den Repetitor, der den Kontakt zu den Referendarinnen und Referendaren hergestellt haben soll, wurde damals gegen eine Geldauflage eingestellt (Beschluss vom 20.01.2025 - 6 B 20.24).

Weiterführende Links

Aus der Datenbank beck-online

VG Lüneburg, Juraexamen, Täuschungsversuch (Vorinstanz), BeckRS 2016, 138696

Editorial: Weiteres Verfahren um verkaufte Examensklausuren endet mit Geldauflage, FD-StrR 2022, 445

Pieroth, Juristische Staatsexamina und Repetitoren im literarischen Zeugnis, NJW 2012, 725

VG Köln: "Gekaufte Hausarbeit" im Ersten Juristischen Staatsexamen rechtfertigt Aberkennung des Wiederholungsversuchs, Meldung der beck-aktuell-Redaktion vom 05.01.2006, becklink 164504

Kudlich, Examensvorbereitung an der Universität und beim Repetitor: Fakten, Vorurteile und Perspektiven, JuS 2002, 413


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