Gastkommentar von Dr. Daniel Kollmeyer
Dass der Fünf-Punkte-Plan zur Migration im Bundestag mit Stimmen der AfD beschlossen wurde, ist nicht der einzige Tabubruch der Union. Schlimmer noch ist, dass sie damit den Vorrang des Rechts in Europa über Bord wirft, kommentiert Daniel Kollmeyer.
Am vergangenen Sonntag haben meine Kinder – fünf und acht Jahre alt – die Sendung mit der Maus gesehen. Es ging darin um die Geschichten hinter den in vielen deutschen Städten zu findenden Stolpersteinen am Beispiel des Osnabrücker Malers Felix Nussbaum, der deportiert und im Jahr 1944 im KZ Auschwitz-Birkenau ermordet wurde. Dabei erklärte die Sendung auch, wie es in den Jahren zuvor aufgrund der sich in Deutschland zuspitzenden politischen Lage zur Machergreifung der NSDAP und zur sukzessiven Verfolgung der Jüdinnen und Juden und anderer Bevölkerungsgruppen kam. Meine Kinder hat das nachhaltig beschäftigt – zuletzt fragte mein Sohn beim Frühstück nochmal danach, wo "dieses Vernichtungslager" eigentlich gewesen sei.
Das von der Maus gewählte Thema ist sicher "schwere Kost" für kleine Kinder. Wie wichtig aber die Erinnerung an historische Fehler ist, zeigte sich in der Debatte um den Antrag der Fraktion der CDU/CSU "Fünf Punkte für sichere Grenzen und das Ende der illegalen Migration", die sich in den vergangenen Tagen zuspitzte. CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt erklärten dazu, wer im Bundestag mitstimme, sei ihnen letztlich egal – auch wenn man mit der im Antrag als "politischen Gegner" bezeichneten AfD die erforderliche Mehrheit herbeiführe. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) wiederum bezeichnete das Vorgehen noch am Sonntag als "demokratischen Tabubruch" und "historisch falsch". Leider ist ihm in dieser Analyse uneingeschränkt zuzustimmen.
Gestern kam es im Bundestag zur Abstimmung über die Anträge und zu einer Mehrheitsbildung mit der AfD. Zuvor war selbst innerhalb der CDU wohl von einem "Ritt auf der Rasierklinge" die Rede gewesen. Dabei liegt die rechtsstaatliche Sprengkraft nicht in den fünf von der Union verlautbarten politischen Forderungen als solchen – über notwendige Maßnahmen und etwaige Änderungen in der Migrationspolitik muss in einer Demokratie selbstverständlich diskutiert werden können. Die historische Tragweite des Vorgehens der Union erschließt sich erst bei genauerer Betrachtung des Wortlautes der ebenfalls beschlossenen und den Antrag einleitenden Feststellungen des Bundestages. Nach dem Willen der Union sollte der Bundestag unter anderem feststellen: "[…] In dieser Gesamtsituation ist es die Pflicht Deutschlands und damit der Bundesregierung, nationales Recht vorrangig anzuwenden, wenn europäische Regelungen nicht funktionieren – so wie es in den europäischen Verträgen für außergewöhnliche Notlagen vorgesehen ist. […]".
CDU wirft "rule of law" über Bord
Die Vorlesung meines Doktorvaters Prof. Dr. Franz C. Mayer an der Universität Bielefeld zum Europarecht begann immer mit einer "düsteren Zahl" – nämlich die der vielen Millionen Todesopfer, die der Zweite Weltkrieg gefordert hat. Damit sollte den Studentinnen und Studenten die Bedeutung der EU und ihrer Vorgängerorganisationen für die Friedenssicherung durch wirtschaftliche Integration in Europa vor Augen geführt werden. Das mag lange her sein, ist aber angesichts des russischen Angriffskrieges, der sich rapide ändernden weltpolitischen Lage und des Erstarkens rechtsradikaler Parteien auch in Europa aktueller denn je. Anders als die AfD bekennt sich die Union klar zur EU und zur Notwendigkeit, als geeintes Europa aufzutreten. Die EU wiederum ist im Kern aber eine supranationale Rechtsgemeinschaft. Laut den Erwägungsgründen 2 und 4 der Präambel des EUV und nach Art. 2 EUV ist die Rechtsstaatlichkeit einer der universellen Werte Europas, auf die sich die EU gründet. Daher wird auch von der "Rechtsgemeinschaft" oder der "rule of law" gesprochen. Funktional geht es immer um die rechtliche Domestizierung der Ausübung hoheitlicher Gewalt. Neben dem demokratischen Prinzip erzeugt Rechtsstaatlichkeit damit ebenfalls Legitimation durch Grenzziehung.
Nach der Rechtsprechung des EuGH ist das Recht der EU vorrangig vor nationalem Recht – selbst vor nationalem Verfassungsrecht – anzuwenden. Das BVerfG wiederum erkennt den Anwendungsvorrang des Europarechts grundlegend an; die Nichtanwendung des Europarechts behält sich das BVerfG nur für den Fall vor, dass der unantastbare Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes nach Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V.m Art. 79 Abs. 3 GG nicht gewahrt werde (Identitätskontrolle) oder bei offensichtlichen und strukturell bedeutsamen Kompetenzüberschreitungen durch die EU (Ultra-Vires-Kontrolle). An diese rechtlichen Grenzen sind auch der Bundestag als Legislative und die Bundesregierung als Exekutive gebunden.
Der Antrag der CDU/CSU wiederum ging schon im Ansatz nicht davon aus, dass die darin konkret geforderten und nun gemeinsam mit AfD und FDP beschlossenen Zurückweisungen an den deutschen Grenzen europarechtskonform wären. Darüber können auch die vorherigen Lippenbekenntnisse verschiedener Unionspolitikerinnen und -politiker, man sei doch von der Vereinbarkeit mit dem geltenden Recht überzeugt, nicht hinwegtäuschen. Offenbar berufen sie sich auf die allgemeine Bestimmung des Art. 72 AEUV oder eine Notlage im Sinn des Art. 78 Abs. 3 AEUV. Letzteres setzt aber tatbestandlich – und das ist für den Juristen Merz leicht nachvollziehbar – erstens einen "plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen" und zweitens ein Handeln des Rates auf Vorschlag der Kommission voraus. Es dürfte Merz und Dobrindt klar gewesen sein, dass sie sich mit ihrem Antrag bewusst über geltendes Europarecht hinwegsetzen. Vielmehr sollte der Bundestag deshalb auch beschließen "[…] die Pflicht Deutschlands [...] nationales Recht vorrangig anzuwenden, wenn europäische Regelungen nicht funktionieren […]". Indem die Union es für ausreichend hält, dass "europäische Regelungen nicht funktionieren", um den Anwendungsvorrang des Europarechts in Frage zu stellen, vollzieht sie eine politische Grenzverschiebung. Im Ergebnis hat sie damit einen Grundpfeiler der EU, nämlich das Bestehen der Rechtsgemeinschaft und die Anerkennung der Grenzen hoheitlicher Gewalt durch das Recht, schwer beschädigt. Andere Mitgliedstaaten könnten dem Beispiel Deutschlands nun in unterschiedlichsten Bereichen folgen, wenn sie der Auffassung sind, dass die europäischen Regelungen "nicht funktionieren".
Einladung an AfD zum gemeinsamen Rechtsbruch
Zur Klarstellung: Ich selbst finde es manchmal befremdlich, wenn etwa auf Ebene der Länder technische Sachfragen, wie z.B. Änderungen einer Landesbauordnung, nicht zur Abstimmung gestellt werden sollen, nur weil die AfD damit "droht", in dieser Sache gleicher Meinung zu sein. Die aktuellen Anträge der Union haben aber eine völlig andere Qualität, weil sie sich nicht auf die Entscheidung einer Sachfrage beschränken, sondern in einer Zeit ohne stabile Regierungsmehrheit in Deutschland eine Einladung an die AfD waren, gemeinsam rechtsstaatliche Grenzen, insbesondere die Anerkennung der EU als Rechtsgemeinschaft, nachhaltig zu beschädigen. Es ist kein Wunder, dass Alice Weidel der Union – dankbar für die Möglichkeit zum Bruch mit einem Grundpfeiler der EU – die Hand zur Zusammenarbeit entgegengestreckt hat, während die Parteifunktionäre auf dem Parteitag weiter damit kokettieren, "gesichert unbequem" zu sein.
Die Tragweite dieses Vorgehens im Rahmen des gemeinsamen Beschlusses der "Fünf Punkte für sichere Grenzen" mit der AfD hat – unabhängig vom Zustandekommen des Beschlusses – schon im Vorfeld erheblichen Schaden für die Rechtsstaatlichkeit angerichtet. Erschreckend ist, dass die Union offenbar beabsichtigt, den eingeschlagenen Weg gemeinsamer Mehrheitsbildung mit der AfD fortzusetzen. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass die Union als derzeit voraussichtlich stärkste Kraft mit diesem katastrophalen Vorgehen in der Gunst der Wählerinnen und Wähler bis zur Bundestagswahl sogar noch hinter die AfD zurückfällt. Möglicherweise wird "Die Maus" die historische Bedeutung dieses Fehlers meinen künftigen Enkelkindern erklären müssen.
Dr. Daniel Kollmeyer ist Rechtsanwalt und Notar bei BRANDI Rechtsanwälte Partnerschaft mbB mit Amtssitz in Gütersloh.
Weiterführende Links
Aus der Datenbank beck-online
Gärditz, Resilienz des Rechtsstaates, NJW 2024, 407
Bauerschmidt, Rechtsstaatlichkeit in der EU und die Instrumente zu ihrer Verteidigung: Artikel 7 EUV, Rechtsstaatlichkeitsbericht und -dialog, Haushaltskonditionalität, EuR 2024, 300