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Ärztliche Zwangsmaßnahmen: Nicht immer nur im Krankenhaus

Andreas Brilla
Wenn der Staat Men­schen gegen ihren Wil­len be­han­deln lässt, braucht es stren­ge Vor­ga­ben. Eine davon hat das BVerfG jetzt ge­lo­ckert: Wenn Be­treu­te dort lei­den wür­den, muss nicht jede ärzt­li­che Zwangs­maß­nah­me in einem Kran­ken­haus statt­fin­den. Was das be­deu­tet, er­klärt An­dre­as Bril­la.

Muss der Staat Gesetze schaffen, die es einem psychisch kranken Menschen ermöglichen, auch außerhalb eines stationären Krankenhausaufenthaltes gegen seinen Willen behandelt zu werden? Anders formuliert: Geht die Schutzpflicht des Staates so weit, dass zum Beispiel eine demente Person einen Anspruch darauf hat, nicht nur im psychiatrischen Krankenhaus, sondern etwa auch in dem Pflegeheim, in dem sie lebt, zwangsbehandelt zu werden? Die Mehrheit des Ersten Senats des BVerfG hat diese Frage am Dienstag mit "Ja" beantwortet.

Die ausnahmslose Vorgabe, ärztliche Zwangsmaßnahmen im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus durchzuführen, ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt. Der Gesetzgeber muss spätestens bis Ende 2026 die Vorschrift des § 1832 Abs. 1 S. 1 Nr. 7 BGB neu regeln, so das BVerfG (Urteil vom 26.11.2024 – 1 BvL 1/24). Bis dahin gilt die Norm in ihrer aktuellen Fassung. Karlsruhe lockert damit erneut eine Voraussetzung dafür, Menschen auch gegen ihren Willen vor sich selbst zu schützen. Diese Entscheidung ist ebenso konsequent wie richtig.

Kein Neuroleptikum im Wohnverbund

Eine psychisch schwer erkrankte Frau wehrte sich – vertreten durch ihren Betreuer – bis zum BGH dagegen, dass das Betreuungsgericht es ihr verweigerte, ihre zwangsweise ärztliche Behandlung mit einem Neuroleptikum statt in einem Krankenhaus in dem Wohnverbund durchzuführen, in dem sie lebte.

Eigentlich wollte die Frau nach ihrem natürlichen Willen gar nicht behandelt werden, weder im Krankenhaus noch im Pflegeheim. Doch wenn eine notwendige Untersuchung, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff dem natürlichen Willen von Betreuten widersprechen, die keinen freien Willen bilden können, kann der Betreuer in eine ärztliche Zwangsmaßnahme einwilligen, was das Betreuungsgericht allerdings genehmigen muss. Dabei geht es nicht immer um große Eingriffe oder Maßnahmen – auch eine bloße Untersuchung, eine Blutabnahme oder die Gabe eines Beruhigungsmittels sind Zwangsmaßnahmen in diesem Sinne.

Der Betreuer willigte in die zwangsweise Gabe eines Neuroleptikums für sechs Wochen ein und beantragte beim Betreuungsgericht, das zu genehmigen. Inhalt seines Antrags war auch, dass das Medikament in der von der Betreuten bewohnten Einrichtung verabreicht werden sollte, die weder institutionell noch räumlich mit einem Krankenhaus verbunden ist. Nach Auffassung des Betreuers könnte aber auch dort eine ärztliche Versorgung sichergestellt und die Applikation des Medikaments bewerkstelligt werden, ohne dass die Betroffene vorher in das nahegelegene psychiatrische Krankenhaus verbracht werden müsste.

Amts- und Landgericht lehnten das aber ab, weil § 1832 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB – die wortlautgleiche Nachfolgevorschrift von § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. - bisher eindeutig einen stationären Krankenhausaufenthalt voraussetzt. Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen fragte der BGH das BVerfG im Weg der konkreten Normenkontrollklage nach Art. 100 Abs. 1 GG, ob die Vorschrift auch für die Fälle verfassungsgemäß sei, in denen die Durchführung der ärztlichen Zwangsmaßnahme nicht - wie gesetzlich vorgesehen - "im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus" stattfinden soll, sondern in einem sogenannten stationsäquivalenten Rahmen.

Eher Belastung als Unterstützung

Die Mehrheit des Ersten Senats bleibt mit ihrer neuen Entscheidung auf ihrer bisherigen Linie - und zwar zu Recht. Der BGH hatte in seinem dogmatisch überzeugenden Vorlagebeschluss schon aufgezeigt, dass es – wie in dem Fall, über den der BGH zu entscheiden hat – Sachverhalte geben kann, in denen es für die betroffene Person eher Belastung denn Hilfe und Unterstützung bedeutet, wenn die Zwangsbehandlung unbedingt stationär im Krankenhau stattfinden muss.

Am häufigsten ist das in der Praxis der Fall, wenn ein dementer Mensch seine gewohnte Umgebung im Pflegeheim verlassen muss, um in einer psychiatrischen Klinik medikamentös "neu eingestellt" zu werden. Solche Aufenthaltswechsel führen regelmäßig zu erheblichen psychischen Belastungen und Verschlechterungen des Gesundheitszustandes. Die Vor- und Nachbetreuung ist dabei durch die bekannten Pflegepersonen mindestens so gut zu leisten wie in einer gerontopsychiatrischen Klinik. Es kommt auch vor, dass etwa ein geistig behinderter Mensch die Notwendigkeit einer Dialysebehandlung nicht erkennen kann und sich mit Händen und Füßen gegen die – dann regelmäßig notwendige – Verbringung in eine Klinik wehrt, in der faktisch gar keine psychische Nachbetreuung erfolgen kann. Denkbar ist auch, dass eine paranoid schizophrene Person befürchtet, nur durch einen Sender in den Zähnen Verbindung zu einer bestimmten Person halten zu können und deshalb eine dringend notwendige zahnärztliche Behandlung ablehnt. Solche Maßnahmen werden in der Regel in einem (psychiatrischen) Krankenhaus gar nicht durchgeführt.

Ein vom Bundesministerium der Justiz nach der letzten Novellierung in Auftrag gegebenes Forschungsprojekt sah keinen Änderungsbedarf. Danach ergaben sich weder Hinweise auf eine Schutzlücke noch auf ein Aufweichen des Ultima-Ratio-Gedankens. Nur eine Klarstellung, dass auch teilstationäre Klinikaufenthalte umfasst sein könnten, sahen die Expertinnen und Experten als wünschenswert an.

In der Tat sind die Konstellationen, um die es hier geht, in der Praxis selten. Die weit überwiegende Anzahl von Zwangsbehandlungen findet während einer freiheitsentziehenden Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus statt. Das BVerfG maß dem Individualrechtsschutz aber für einen dieser seltenen Fälle mehr Bedeutung zu als der generellen Beschränkung der Zwangsbehandlung, auch wenn diese zweifelsohne einen massiven Eingriff in die Grundrechte des Betroffenen bedeutet.

Absoluter Krankenhausvorbehalt unverhältnismäßig 

Deshalb ist der Krankenhausvorbehalt mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG unvereinbar, soweit er ärztliche Zwangsmaßnahmen immer und für jeden Fall nur stationär im Krankenhaus erlaubt. Das BVerfG erklärt den erheblichen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht und die körperliche Unversehrtheit von betreuten, nicht einwilligungsfähigen Personen zwar für geeignet und erforderlich, damit der Staat seiner Schutzpflicht gegenüber diesen Menschen nachkommen kann.

Auch mit dem Krankenhausvorbehalt verfolge der Gesetzgeber den verfassungsrechtlich legitimen Zweck, bei der Umsetzung seiner Schutzpflicht materielle und verfahrensrechtliche Sicherungen zu gewährleisten. Betroffene sollen in ihrem privaten Wohnumfeld vor Zwangsmaßnahmen geschützt sein, die Voraussetzungen ärztlicher Zwangsmaßnahmen sollen im Krankenhaus durch multiprofessionelle Teams geprüft, nicht erforderliche ärztliche Zwangsmaßnahmen verhindert werden. Insgesamt besteht die Befürchtung, dass Zwangsbehandlungen von Betreuern vorschnell beantragt und von Gerichten durchgewunken werden.

Doch in der Gesamtabwägung hält das BVerfG den Krankenhausvorbehalt jedenfalls dann für unverhältnismäßig, wenn die betreute Person zumindest mit einiger Wahrscheinlichkeit durch die Verbringung ins Krankenhaus erheblich in ihrer körperlichen Unversehrtheit bedroht wird.

Das soll allerdings laut dem BVerfG nur dann gelten, wenn andererseits die Einrichtung, in der die Person untergebracht ist, ihrerseits so ausgestattet ist, dass sie die erforderliche medizinische Versorgung einschließlich der Nachversorgung voraussichtlich nahezu auf Krankenhausniveau erbringen kann und dass die Beeinträchtigungen, die man bei der Verbringung in ein Krankenhaus befürchtet, in der Einrichtung vermieden oder jedenfalls signifikant reduziert werden. Auch andere Gefahren für die körperliche Unversehrtheit oder andere grundrechtlich geschützte Positionen, die ähnlich dramatisch wären wie die bei einem Krankenhausaufenthalt, dürfen dort laut dem Karlsruher Verdikt nicht drohen.

Der Staat schützt den Menschen - vor sich selbst

Nochmal von vorne: Ursprünglich war die Erlaubnis für eine Zwangsbehandlung quasi schon in der Genehmigung der freiheitsentziehenden Unterbringung enthalten. Der Gedanke: Wenn jemand in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird, weil er darin behandelt werden muss, um eine drohende Gefährdung von sich abzuwenden, sollte auch eine Zwangsbehandlung ohne gesonderte Genehmigung möglich sein.

Aufgrund der Schwere des Eingriffs entschied das BVerfG aber 2011, dass eine Behandlung oder Untersuchung gegen den natürlichen Willen nur gerechtfertigt sein kann, wenn zusätzlich zu den Gründen für die Unterbringung weitere Voraussetzungen hinzukommen.

Zuvörderst muss die Behandlung notwendig sein, um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden von der betroffenen Person abzuwenden. Diese muss zudem krankheitsbedingt nicht in der Lage sein, die Notwendigkeit der Maßnahme zu erkennen und diese mutmaßlich gewollt haben, wenn sie ihren Zustand quasi vorausgesehen hätte. Schließlich muss das Personal zuvor versucht haben, die Person von der Notwendigkeit der Maßnahme zu überzeugen, es darf kein milderes Mittel geben und der Nutzen muss die zu erwartende Beeinträchtigung deutlich überwiegen.

Bis 2016 war zusätzlich vorausgesetzt, dass der Betroffene freiheitsentziehend untergebracht ist. Auch damals zwang Karlsruhe den Gesetzgeber, den damaligen § 1906 Abs. 3 BGB zu ändern. Denn es gab und gibt Situationen, in denen ein Betroffener gar nicht untergebracht werden muss, weil er sich zum Beispiel nicht mehr fortbewegen kann oder will, und dennoch zwangsbehandelt werden muss.

Bis heute war geregelt, dass die ärztliche Zwangsmaßnahme nur im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus durchgeführt werden darf, in dem die gebotene medizinische Versorgung des Betreuten einschließlich einer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist.

Mehr Schaden als Nutzen?

Die Mehrheit des Ersten Senats ist der Auffassung, dass die übrigen strengen Voraussetzungen ausreichen, um Betroffene vor unverhältnismäßigen Behandlungen gegen ihren natürlichen Willen zu schützen, wenn man diese letzte Voraussetzung nicht generell fordert, sondern auch insoweit eine Abwägung zulässt.

Die Entscheidung erging mit 5:3 Stimmen. In seiner abweichenden Meinung hält der Richter des BVerfG Heinrich Amadeus Wolff mit der Mehrheit des Senats zwar Konstellationen für denkbar, in denen ein Aufenthalt im Krankenhaus eine Belastung beim Betroffenen auslösen könne, die den Eingriff im Einzelfall unverhältnismäßig werden lassen könne. Wolff erkannte aber – auch mit Blick auf die Uneinigkeit der vom BVerfG befragten Sachverständigen – keine die staatliche Schutzpflicht verletzende, offensichtlich ungeeignete oder völlig unzulängliche Rechtslage. Er sieht vielmehr die Gefahr, dass die Einführung weiterer (auch noch so eng gefasster) Formen der Zwangsbehandlung die materielle Eingriffsschwelle für Zwangsbehandlungen absenken könnte. Ob diese Gefahr der Absenkung des Schutzstandards hinzunehmen sei, habe bei einer so unsicheren Erkenntnisgrundlage ausschließlich der Gesetzgeber zu entscheiden.

Nicht erst seit dem Roman "Einer flog über das Kuckucksnest" herrscht Einigkeit darüber, dass ärztliche Zwangsmaßnahmen ultima ratio sein müssen. Andererseits ist der Staat verpflichtet, Regelungen zu schaffen, die erlauben, Menschen in schweren Krisen vor Entscheidungen zu bewahren, durch die sie sich selbst ganz erheblich schaden. Der Erste Senat hat sich heute mehrheitlich dafür entschieden, dass der Gesetzgeber die Regelung über die Zwangsbehandlung in einem Punkt etwas flexibler ausgestalten muss, um im Einzelfall den Menschen die Hilfe zu ermöglichen (Urteil vom 26.11.2024 - 1 BvL 1/24).

Andreas Brilla ist Direktor des AG Sinsheim. Er ist seit vielen Jahren im Betreuungsrecht tätig und regelmäßiger Autor von Veröffentlichungen zum Thema. Im Präsidium des Deutschen Richterbundes war er bis zur Übernahme des Landesvorsitzes in Baden-Württemberg zuständig für Familien- und Betreuungsrecht.

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