Mit der jüngsten Wahlrechtsreform aus dem Jahr 2023 war unter anderem die Grundmandatsklausel gestrichen worden war, um die Zahl der Sitze im Parlament zu begrenzen (§ 4 Absatz 2 Satz 2 Nummer 2 BWahlG). Nach der Grundmandatsklausel ziehen Parteien auch dann in der Stärke ihres Zweitstimmenergebnisses in den Bundestag ein, wenn sie unter der Fünf-Prozent-Hürde lagen, aber mindestens drei Direktmandate gewinnen.
Das hat das BVerfG nun als verfassungswidrig eingestuft. Die Streichung der Grundmandatsklausel sei unvereinbar mit dem Recht der Parteien auf Chancengleichheit nach Artikel 21 Absatz 1 und mit der Wahlrechtsgleichheit nach Artikel 38 Absatz 1 Satz 1 GG, so das Gericht. Es setzte sie vorerst wieder in Kraft, bis der Gesetzgeber eine Neuregelung verabschiedet hat (Urteil vom 30.07.2024 - 2 BvF 1/23 u.a.).
Bereits am späten Montagabend kursierte das Urteil online. Das Dokument war zeitweise auf der Internetseite des obersten deutschen Gerichts abrufbar, mehrere Medien berichteten darüber. Wie es zu der Veröffentlichung kam, blieb zunächst offen.
Die von der Koalition aus SPD, FDP und Grünen durchgesetzte Neuregelung ist seit Juni 2023 in Kraft und soll erstmals bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr angewendet werden. Mit der Reform soll die Größe des Bundestags stark reduziert werden - verglichen mit dem aktuellen Stand um mehr als 100 auf maximal 630 Parlamentarier.
Um das zu erreichen, hat die Koalition Überhang- und Ausgleichsmandate gestrichen. Überhangmandate fielen bislang an, wenn eine Partei über die Erststimmen mehr Direktmandate gewann, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis Sitze zustanden. Diese Mandate durfte sie dann behalten, die anderen Parteien erhielten dafür Ausgleichsmandate. Dass die Ampel die Überhang- und Ausgleichsmandate gestrichen hat, ist aus Sicht der Karlsruher Richterinnen und Richter verfassungskonform.
Vor allem Linke und CSU von Reform betroffen
In Karlsruhe waren gegen das Gesetz die bayerische Staatsregierung, 195 Mitglieder der Unionsfraktion im Bundestag, die Linke im Bundestag sowie die Parteien CSU und Linke vorgegangen. Zudem hatten mehr als 4.000 Privatpersonen eine Verfassungsbeschwerde eingereicht.
Durch den geplanten Wegfall der Grundmandatsklausel stand insbesondere für CSU und Linke einiges auf dem Spiel. Bei der Wahl 2021 war die CSU, die nur in Bayern antritt, bundesweit auf 5,2% der Zweitstimmen gekommen. Würde sie bei der nächsten Wahl bundesweit hochgerechnet unter die Fünf-Prozent-Marke rutschen, flöge sie nach dem neuen Wahlrecht aus dem Bundestag - auch wenn sie wieder die allermeisten Wahlkreise in Bayern direkt gewinnen sollte.
Die Linke wiederum zog bei der letzten Bundestagswahl nur über die Grundmandatsklausel in Fraktionsstärke in den Bundestag ein. Die Partei scheiterte 2021 an der Fünf-Prozent-Hürde, gewann aber drei Direktmandate. Nach der Abspaltung des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) steckt die Linke wieder tief in der Krise. Bei der Europawahl Anfang Juni erzielte sie nur noch 2,7% (Urteil vom 30.07.2024 - 2 BvF 1/23).
(Hinweis der Redaktion: Die Meldung wurde mit Verkündung des Urteils neu gefasst. 30.7.2024, 10:45 Uhr, jvh)
Weiterführende Links
Aus der Datenbank beck-online
Rennert, Die Abschaffung der Grundmandatsklausel als verfassungsrechtliches Problem der Wahlrechtsreform 2023, NJW 2023, 3410
Austermann, Wahlrechtsreform mit gleichheitswidriger Zweitstimmendeckung, NVwZ 2023, 65
Ipsen, Eine erneute Reform des Wahlrechts, NVwZ 2023, 218