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Frauenrechte im Irak: "Verwestlichung" kann Asylgrund sein

Redaktion beck-aktuell, Denise Dahmen
Zwei junge ira­ki­sche Frau­en könn­ten als An­ge­hö­ri­ge einer ver­folg­ten Grup­pe gel­ten, weil sie von der Gleich­heit von Mann und Frau über­zeugt sind, so der EuGH. Sie seien nach Jah­ren in Eu­ro­pa zu west­lich für ihr Her­kunfts­land.

Wer aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe in seinem Heimatland Verfolgung zu befürchten hat, kann als Flüchtling anerkannt werden und hat mitunter ein Recht auf Asyl. So schreibt es die EU-Richtlinie 2011/95/EU (sogenannte Qualifikationsrichtlinie) vor. Über das Kriterium der "bestimmten sozialen Gruppe" als Verfolgungsgrund hatte nun der EuGH zu entscheiden. Er kam zu dem Schluss: Wer nach den Wertmaßstäben in seinem Heimatland als "zu westlich" gilt, kann unter Umständen als Flüchtling anerkannt werden (Urteil vom 11.06.2024 – Az. C 646/21).

Frauen und Mädchen, die sich mit dem Wert der Gleichheit von Mann und Frau identifizieren und diesen auch ausleben, können in ihrem Herkunftsland als Mitglieder einer bestimmten sozialen Gruppe gesehen werden, befand die Große Kammer. Je nach den Gegebenheiten in diesem Herkunftsland könne ihnen aufgrund dessen Verfolgung drohen, weshalb sie ggf. als Flüchtlinge anzuerkennen seien.

In dem Fall ging es um zwei junge irakische Frauen, die 2015 als 10- bzw. 12-Jährige in die Niederlande gekommen waren. Dort verbachten sie ihre Jugend und – wie die Frauen vortrugen – vor allem die identitätsprägenden Jahre des Heranwachsens. Nachdem die Asylfolgeanträge der damals noch Minderjährigen abgelehnt worden waren, wehrten sie sich dagegen vor einem niederländischen Gericht. Sie trugen vor, dass sie durch ihr Leben in den Niederlanden die Normen, Werte und Verhaltensweisen der dortigen Gesellschaft angenommen hätten. Bei einer Rückkehr in den Irak wären sie nicht in der Lage, sich den Regeln einer Gesellschaft anzupassen, in der Frauen und Mädchen nicht dieselben Rechte hätten wie Männer. Sie befürchteten, wegen ihrer Identität, die sich in den Niederlanden geformt habe, verfolgt zu werden. In einem Vorabentscheidungsersuchen fragte das niederländische Gericht daraufhin den EuGH, wie der Begriff einer "bestimmten sozialen Gruppe" auszulegen sei.

Verfolgung muss identitätsprägende Überzeugung betreffen

"Der EuGH macht in seiner Entscheidung klar, dass der Verfolgungsgrund aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe weit ausgelegt werden muss", erklärt Constantin Hruschka vom Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik gegenüber beck-aktuell. In Deutschland behandle man das Merkmal bisher eher restriktiv. Insbesondere seien deutsche Gerichte zurückhaltend damit, Frauen und Mädchen generell als eine abgrenzbare Gruppe im Sinn des § 3 Abs. 1 S. 1 AsylG anzuerkennen. Vor diesem Hintergrund hält Hruschka das Urteil des EuGH für bemerkenswert.

Damit eine "bestimmte soziale Gruppe" im Sinn von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der RL 2011/95/EU vorliegt, müssen die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder eine Überzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass die Betreffenden nicht gezwungen werden sollten, auf sie zu verzichten. Außerdem muss die Gruppe in dem jeweiligen Land aufgrund der Tatsache, dass sie von der dortigen Gesellschaft als "andersartig" betrachtet wird, eine deutlich abgegrenzte Identität haben. Das wurde bisher überwiegend nur dann angenommen, wenn dem eine gemeinsame politische oder religiöse Überzeugung zugrunde lag. Dem hat der EuGH nun eine Absage erteilt: Auch die geteilte Überzeugung, Männer und Frauen seien gleichwertig, könne ausreichen, sofern diese Überzeugung im Herkunftsland als "andersartig" begriffen werde.

"Verwestlichung" als Frage des Flüchtlingsrechts

Der EuGH stellt in seiner Entscheidung insbesondere auf die westliche Prägung ab, die die Irakerinnen durch ihre Jugend in den Niederlanden erhalten haben. Die Idee, Schutzwürdigkeit aus einem langen Aufenthalt in einem europäischen Staat abzuleiten, ist nicht neu. Unter dem Schlagwort "Verwestlichung" wird sie bereits seit langem diskutiert und von der Rechtsprechung gewürdigt. Neu ist laut Hruschka allerdings die Stoßrichtung, in die der EuGH es nun interpretiert.

"In der deutschen Praxis werden unter dem Stichwort Verwestlichung bisher eher Fälle aus Afghanistan und Iran diskutiert", erklärt er. "Und zwar häufig im Kontext von Abschiebeverboten und dort im Rahmen der konkreten Gefährdung. Der EuGH hat mit seiner Entscheidung nun klargestellt, dass die Verwestlichung – oder wie er differenzierend sagt: die Übernahme westlicher Werte – auch eine flüchtlingsrechtliche Frage ist. Der EuGH erweitert damit den Begriff der Übernahme westlicher Werte und wendet ihn für den Irak an."

Prof. Dr. Daniel Thym von Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht an der Uni Konstanz hält das für überzeugend. "Der EuGH legt das Asylrecht konsequent im Lichte europäischer Grundrechte und Verfassungswerte aus", sagt er. "Damit bekommt die Genfer Flüchtlingskonvention eine dezidiert europäische Lesart, die viele andere Länder dieser Welt, die die Flüchtlingskonvention auch ratifizierten, nicht teilen werden. Ganz ähnlich urteilte der Gerichtshof zuvor bereits für Schwule und Lesben."

Frauen als generell verfolgte Gruppe?

Mit seinem Urteil gibt der EuGH auch für die deutsche Rechtsprechung Impulse, meint Hruschka. Neben der zentralen Frage der Gruppenzugehörigkeit der irakischen Frauen mahne der Gerichtshof auch eine kindersensible Auslegung des Flüchtlingsbegriffs an. "Der EuGH stellt klar, dass bei jeder flüchtlingsrechtlichen Entscheidung das Kindeswohl konkret mitgeprüft werden muss." Außerdem gingen die Luxemburger Richterinnen und Richter einen Schritt in Richtung Anerkennung mangelnder Frauenrechte als Schutzgrund: "Parallel zu dem aktuellen Verfahren muss sich der EuGH auch mit der Verfolgung afghanischer Frauen befassen. Hier geht es sogar um die Frage, ob man Frauen aus Afghanistan aufgrund der dortigen Entrechtung grundsätzlich die Flüchtlingseigenschaft zuerkennen muss. Früher oder später wird der EuGH zu diesem Thema eine Position einnehmen."

Auch Thym sieht durch das Urteil neuen Raum für Diskussionen eröffnet: "Vieles hängt davon ab, wie die nationalen Behörden und Gerichte die Vorgaben des EuGH anwenden. Der Gerichtshof betont nämlich, dass das neue Urteil kein Freibrief ist. Es muss in jedem Einzelfall geprüft werden, wie glaubhaft das Bekenntnis zu westlichen Werten ist und ob dieses tagtäglich auch gelebt wird. Praktisch wird das für allem für Frauen gelten, die während der Jugendjahre in Europa geprägt wurden. Das betont auch der Gerichtshof."

Prinzipiell könne die Überlegung allerdings auch für Frauen gelten, die als Erwachsene nach Europa kommen, meint Thym. "Beim Asylrecht kommt es immer auf die Umstände des Einzelfalls an. So können aus dem Irak einerseits Frauen kommen, die westliche Werte verinnerlichen und leben, andererseits Frauen, die das nicht tun. Ganz anders ist die Lage ohnehin bei jungen Männern, die rein statistisch gesprochen die überwiegende Mehrzahl der Asylantragsteller in Deutschland und anderen EU-Mitgliedstaaten ausmachen." (Urteil vom 11.6.2024 - C 646/21)

Weiterführende Links

Aus der Datenbank beck-online

VG Hamburg, Flüchtlingsrelevanz der "Verwestlichung" einer jungen iranischen Frau, BeckRS 2024, 8958

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