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Verfassungswidrigkeit des Zinssatzes für Erstattungszinsen: Bildung einer Rückstellung für die drohende Rückzahlung?

BC-Redaktion

FG Münster Urt. v. 28.8.2024 – 9 K 615/24 K,G,F (Revision nicht zugelassen)

 

Eine Rückzahlung vorläufig festgesetzter Erstattungszinsen droht auch dann nicht, wenn wegen der Verfassungsmäßigkeit des Zinssatzes ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig ist.

 


 

Praxis-Info!

Der Zinssatz für Steuernachforderungen und -erstattungen für Verzinsungszeiträume beläuft sich seit dem 1.1.2019 auf 0,15% pro Monat, also 1,8% für ein volles Jahr. Zuvor betrug dieser 6% pro Jahr (bzw. 0,5% pro Monat). Zurückzuführen ist die  Senkung des Zinssatzes für Steuernachforderungen und -erstattungen auf einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 8.7.2021 (1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17, BVerfGE 158, 282). Danach sei der Zinssatz für die Vollverzinsung von 0,5% Zinsen pro Monat des Zinslaufs (6% p.a.) wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG verfassungswidrig.

 

 

Problemstellung

Für die Umsatzsteuerbescheide 2001 bis 2016 setzte das Finanzamt Erstattungs- bzw. Nachzahlungszinsen fest. Wegen der damals strittigen Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Zinsen von 0,5% pro Monat enthielten die Bescheide einen Vorläufigkeitsvermerk gemäß § 165 AO.

Mit Blick auf die genannten Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, in denen eine Anpassung des jährlichen Zinssatzes von 6% auf 3% vorgeschlagen wird, wurde in der Bilanz auf den 31.10.2020 eine Rückstellung für eine hälftige Rückzahlung der (bereits erhaltenen) Erstattungszinsen gebildet. Zum Zeitpunkt der Bilanzerstellung lag der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 8.7.2021 noch nicht vor.

Mit Beschluss vom 8.7.2021 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die Vorschrift des § 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 S. 1 AO, die einen Zinssatz von jährlich 6% vorsieht, seit dem 1.1.2014 verfassungswidrig sei, jedoch bis zum 31.12.2018 fortgelte.

Das Finanzamt löste im Zuge einer steuerlichen Außenprüfung im Oktober 2022 die Rückstellung auf. Begründung: Es sei nicht ernsthaft mit einer Inanspruchnahme auf Rückzahlung der erhaltenen Erstattungszinsen zu rechnen gewesen. Die Wahrscheinlichkeit habe nicht bei über 50% gelegen. Eine rückwirkende Anpassung sei nur dann möglich gewesen, wenn das Bundesverfassungsgericht diese ausnahmsweise im Tenor seiner Entscheidung zugelassen hätte.

 

 

Lösung

Das Finanzamt hat die Bildung einer Rückstellung für die Rückzahlung von Erstattungszinsen zu Recht nicht anerkannt. Die Voraussetzungen einer Rückstellungsbildung lagen nicht vor.

Voraussetzung für die Bildung einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten ist …

  • das Bestehen einer nur ihrer Höhe nach ungewissen Verbindlichkeit oder
  • die hinreichende Wahrscheinlichkeit des künftigen Entstehens einer Verbindlichkeit dem Grunde nach (deren Höhe zudem ungewiss sein kann) sowie
  • ihre wirtschaftliche Verursachung in der Zeit vor dem Bilanzstichtag,
  • die zu erwartende ernsthafte Inanspruchnahme der Schuldner.

Das Vorhandensein einer Belastung muss nach den objektiven Verhältnissen am Bilanzstichtag unter Berücksichtigung wertaufhellender Umstände beurteilt werden. Nach dem Bilanzstichtag eingetretene Ereignisse – etwa ein nach dem Bilanzstichtag ergangenes verfahrensbeendendes Urteil – sind nicht wertaufhellend, sondern wertbegründend.

Die Erstattungszinsen wurden mit Bescheiden vom 23.4.2020 bestandskräftig festgesetzt. Die Vorläufigkeitserklärung führte nicht dazu, dass das Bestehen einer Verpflichtung zur Rückzahlung der Erstattungszinsen (durch das Finanzamt) und die tatsächliche Inanspruchnahme hinreichend wahrscheinlich waren.

Nach § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO darf bei der Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, dass das Bundesverfassungsgericht die Nichtigkeit eines Gesetzes feststellt, auf dem die bisherige Steuerfestsetzung beruht (Vertrauensschutz). Von einer Änderung der Zinsfestsetzungen zuungunsten des Steuerpflichtigen konnte mit ganz überwiegender Wahrscheinlichkeit zum Zeitpunkt der Bilanzaufstellung nicht ausgegangen werden.

Wortlaut des § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO:

„Bei der Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids darf nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, dass … das Bundesverfassungsgericht die Nichtigkeit eines Gesetzes feststellt, auf dem die bisherige Steuerfestsetzung beruht …“

 

 

Fokus:

Mit dem Urteil des Finanzgerichts Münster, das nicht zur Revision zugelassen ist, wird deutlich: Bei anhängigen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht oder vor obersten Gerichten (wie dem BFH) besteht ein gewisser Vertrauensschutz in die Bestandskraft von bereits ergangenen Steuerbescheiden, die auf einer (bislang) günstigeren Gesetzgebung, Rechtsprechung oder Verwaltungsvorschrift beruhen (§ 176 AO). Betroffen hiervon sind insbesondere Änderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Nachteil der Steuerpflichtigen. Der Vertrauensschutz erstreckt sich auch auf Verwaltungsakte, die den Steuerbescheiden gleichgestellt sind (insbesondere Feststellungsbescheide, vgl. § 181 Abs. 1 S. 1 AO).

 

 

Bilanzierungshinweise:

 

Eine Forderung ist erst dann (am Schluss des Wirtschaftsjahres) zu aktivieren, wenn sie rechtlich entstanden ist oder wenn die für ihre Entstehung wesentlichen wirtschaftlichen Ursachen im abgelaufenen Geschäftsjahr gesetzt wurden und der Kaufmann mit der künftigen rechtlichen Entstehung des Anspruchs hinreichend sicher rechnen kann. Dies gilt auch für Steuerforderungen, wie z.B. Umsatzsteuer-Erstattungsansprüche – und damit korrespondierend für die Erstattungszinsen nach § 233a AO.

Der Anspruch auf Zinsen wegen Steuererstattungen entsteht insofern (nach § 233a Abs. 1 AO) in der Regel erst dann, wenn die Festsetzung einer Betriebssteuer zu einer Steuererstattung führt. Vor der Steuerfestsetzung (Erteilung des jeweiligen Steuerbescheids) ist für gewöhnlich rechtlich kein Zinsanspruch entstanden. Gleichwohl ist aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten eine Zinsforderung auszuweisen, wenn die in § 233a Abs. 2 S. 1 AO genannte Frist von 15 Monaten nach dem Ende des Kalenderjahres, für das der Steuererstattungsanspruch entstanden ist, abgelaufen ist.

Allerdings: Steuererstattungsansprüche müssen nicht in jedem Fall erst bei Erteilung des jeweiligen Steuerbescheids aktiviert werden, sondern sie können bereits mit Ablauf des Geschäftsjahres, auf das sie entfallen, berücksichtigt werden (im Bilanzrecht vorherrschende wirtschaftliche Betrachtungsweise). Voraussetzung: Es kann mit hinreichender Sicherheit angenommen werden, dass der Erstattungsanspruch von der Finanzverwaltung festgesetzt werden wird. Umgekehrt heißt das: Wenn und solange die Ansprüche vom Finanzamt bestritten werden bzw. die Finanzverwaltung insgesamt eine der Entstehung eines Erstattungsanspruchs entgegenstehende Rechtsauffassung vertritt, sind diese Forderungen nicht hinreichend sicher und wirtschaftlich durchsetzbar.

Handelsrechtlich sind die faktisch im laufenden Geschäftsjahr begründeten Forderungen (gemäß § 268 Abs. 4 S. 2 HGB) unter dem Posten „sonstige Vermögensgegenstände” (§ 266 Abs. 2 B. II. 4. HGB) zu aktivieren.

Hinsichtlich der Bildung von Rückstellungen für die Zahlung von Zinsen wegen entstandener Steuernachforderungen sind die Bedingungen strikter: Maßgebend ist der Zeitpunkt der Entstehung der Steuernachforderung – zuzüglich der bereits genannten Karenzzeit von 15 Monaten nach Ablauf des Kalenderjahres, für das die Steuernachforderung entstanden ist. Rückstellungen für die Steuernachforderungen an sich (!) kommen jedoch weit früher infrage (z.B. Beanstandung einer Sachbehandlung durch den Betriebsprüfer).

 

[Anm. d. Red.]

 

 

BC 11/2024

BC20241106

 

 

 

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