Dr. Martin Weiss
BFH Urt. v. 15.5.2024 – IV R 21/21
Im Mittelpunkt stehen u.a. die Fragen: Wann liegt eine einheitliche, mehrgemeindliche Betriebsstätte vor und wann nicht? Wie ist mit dem Regelmaßstab der Arbeitslöhne nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 GewStG in Bezug auf den Zerlegungsanteil zu verfahren, wenn in einer mehrgemeindlichen Betriebsstätte keine Arbeitnehmer beschäftigt sind?
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Problemstellung
Die Gewerbesteuer soll das Steuerobjekt – den Gewerbebetrieb des § 2 Abs. 1 GewStG – „mit der ihm eigenen Ertragskraft ohne Rücksicht auf die persönlichen Merkmale des Steuersubjekts und seiner persönlichen Beziehung zum Steuerobjekt“ erfassen (BFH Urt. v. 1.9.2021 – III R 20/19, BStBl. II 2022, 83, Rn. 21).
- Die Schuldnerschaft (§ 43 S. 1 AO) liegt dabei beim Unternehmer (§ 5 Abs. 1 S. 1, 2 GewStG) bzw. bei der gewerblichen Personengesellschaft selbst (§ 5 Abs. 1 S. 3 GewStG).
- Steuergläubiger ist hingegen die Gemeinde (§ 1 GewStG), in der im Erhebungszeitraum (§ 14 S. 2 f. GewStG) eine Betriebsstätte (§ 12 AO) zur Ausübung des stehenden Gewerbes unterhalten wird (§ 4 Abs. 1 S. 1 GewStG).
Befinden sich Betriebsstätten desselben Gewerbebetriebs (§ 2 GewStG) in mehreren Gemeinden oder erstreckt sich eine Betriebsstätte über mehrere Gemeinden, so wird die Gewerbesteuer in jeder Gemeinde nach dem Teil des Steuermessbetrags erhoben, der auf sie entfällt (§ 4 Abs. 1 S. 2 GewStG). Die Entscheidung über diesen „Teil des Steuermessbetrags“ wird dabei verfahrensrechtlich
- durch Zuteilung (§ 190 AO), wenn der Steuermessbetrag in voller Höhe einer einzigen Gemeinde zuzuweisen ist, oder
- durch Zerlegung (§§ 185 bis 189 AO; § 28 ff. GewStG), wenn der Steuermessbetrag auf mehrere Gemeinden zu verteilen ist,
vorgenommen (BeckOK GewStG/Kleinmanns, GewStG § 4, Rn. 152).
Entscheidender Anknüpfungspunkt für die so umschriebene „Hebeberechtigung“ des § 4 GewStG ist die Betriebsstätte des § 12 AO (BFH Urt. v. 17.11.2020 – I R 72/16, BeckRS 2020, 46803, Rn. 34). Die Betriebsstätte erfordert gemäß § 12 S. 1 AO nach ständiger Rechtsprechung des BFH (z.B. BFH Urt. v. 23.3.2022 – III R 35/20, BeckRS 2022, 19633, Rn. 17)
- eine Geschäftseinrichtung oder Anlage mit einer festen Beziehung zur Erdoberfläche,
- die von einer gewissen Dauer ist,
- der Tätigkeit des Unternehmens dient und
- über die der Steuerpflichtige eine nicht nur vorübergehende Verfügungsmacht hat.
§ 12 S. 2 AO enthält „Regelbeispiele“ einer solchen Betriebsstätte, die etwa die „Stätte der Geschäftsleitung“ (Nummer 1) oder naheliegende Fälle wie „Fabrikations- oder Werkstätten“ (Nummer 4) umfassen. Was aber, wenn die Betriebsstätte „unkonventioneller Natur“ ist und nicht recht in den Katalog des § 12 S. 2 AO passt?
Lösung
Die Aufzählung dort ist nur „beispielhaft“ (BFH Urt. v. 2.4.2014 – I R 68/12, BeckRS 2014, 95391), sodass im Besprechungsurteil des BFH auch das Rohrleitungsnetz der klagenden Kommanditgesellschaft, das sich über mehrere inländische Gemeinden erstreckte, unter den Betriebstättenbegriff des § 12 AO fiel („mehrgemeindliche Betriebsstätte“, Rz. 26 ff.). Daneben hatte die Klägerin – wie jeder Gewerbebetrieb (z.B. BFH Urt. v. 19.12.2007 – I R 19/06, BeckRS 2007, 24003216) – eine Geschäftsleitungsbetriebsstätte (§ 12 S. 2 Nr. 1 AO). Beide sind nach dem Urteil des BFH als eigenständige Betriebsstätten anzusehen, da kein enger betrieblicher, das heißt wirtschaftlicher, technischer und organisatorischer Zusammenhang, zwischen ihnen besteht.
Erst auf die Nichtzulassungsbeschwerde hin hatte der BFH die Revision zugelassen. Im Ergebnis hat er jedoch die Zerlegung des Messbetrags des Erhebungszeitraums 2015 nur auf die Gemeinde, in der sich die Geschäftsleitungsbetriebsstätte der Klägerin befand, bestätigt: Nur dort lagen Arbeitslöhne für Zwecke der Zerlegung (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 GewStG; § 31 GewStG) vor. Die Sondervorschrift des § 28 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 GewStG, die die Klägerin im Umkehrschluss für ihre Rechtsauffassung anführte, ist nach dem BFH in diesem Kontext unbeachtlich.
Praxishinweise: - Als „Sicherheitsventil“ sieht § 33 Abs. 1 S. 1 GewStG vor, dass eine Zerlegung nach den §§ 28 bis 31 GewStG nicht zu „einem offenbar unbilligen Ergebnis“ führen soll. In diesem Fall ist nach einem Maßstab zu zerlegen, der die tatsächlichen Verhältnisse besser berücksichtigt. In einem solchen Fall muss jedoch „aufgrund der Umstände des Einzelfalls die sich aus dem groben Maßstab des § 29 GewStG allgemein ergebende Unbilligkeit offensichtlich übertroffen“ werden (BFH Urt. v. 25.11.2009 – I R 18/08, BFH/NV 2010, 941), was nach dem BFH-Urteil nicht der Fall war.
- Ein praxistaugliches Prüfungsschema für die „mehrgemeindliche Betriebsstätte“ findet sich bei Heurung/Ferdinand/Gilson, BB 2019, 411.
- Für die Geschäftsleitungsbetriebsstätte hält § 31 Abs. 5 GewStG bei natürlichen Personen und Personengesellschaften durch § 31 Abs. 5 GewStG eine Besonderheit bereit: Für die im Betrieb tätigen Unternehmer (Mitunternehmer) ist danach ein fiktiver Unternehmerlohn von insgesamt 25.000 € jährlich anzusetzen.
- Probleme mit der Frage der Betriebsstätte und der möglichen Zerlegung des Messbetrags wirft auch die „New Economy“ auf: Die dort beliebten „Coworking Spaces“ (Räume zur gemeinschaftlichen Erledigung von Büroarbeit) müssen insbesondere mit Blick auf die „gewisse Dauer“ der Betriebsstätte kritisch betrachtet werden (Blum/Stetter, DStR 2024, 1746).
- Beim Rechtsschutz gegen den Zerlegungsbescheid ist Vorsicht geboten: Aufgrund eines ganzen Systems von Grundlagen- und Folgebescheiden (§ 171 Abs. 10 S. 1 AO; Katalog bei BeckOK GewStG/Faber, GewStG, § 14, Rn. 71 ff.) muss genau auf § 351 Abs. 2 AO und § 42 FGO geachtet werden: Entscheidungen in einem Grundlagenbescheid können nur durch Anfechtung dieses Bescheids, nicht auch durch Anfechtung des Folgebescheids, angegriffen werden (BeckOK GewStG/Jahndorf, GewStG, § 28, Rn. 394; BFH Urt. v. 27.6.2018 – I R 13/16, BeckRS 2018, 34106, Rn. 19).
- In dem Verfahren vor dem BFH ging es hingegen um die Frage des Zerlegungsmaßstabs, die von der ansonsten bestehenden Bindungswirkung des Messbescheids für den Zerlegungsbescheid (BFH Urt. v. 11.7.2019 – I R 26/18, DStR 2020, 441, Rz. 20) gar nicht umfasst war (BFH Urt. v. 5.11.2014 – IV R 30/11, BeckRS 2015, 94289, Rz. 24).
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Dr. Martin Weiss, Steuerberater, Fachberater für Internationales Steuerrecht, Dipl.-Kfm., Verlag C.H.BECK, München
BC 9/2024
BC 20240911