BFH Beschl. v. 4.6.2024 – VIII B 121/22
Mit Kanonen schießt es sich bekanntlich schlecht auf Spatzen. Ähnlich unterschiedliche Proportionen liegen auch einem aktuellen Beschluss des BFH zugrunde. Im Streitfall wurde versucht, mittels der Unschuldsvermutung im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention gegen einen Verspätungszuschlag bei nicht fristgemäßer Abgabe der Steuererklärung vorzugehen.
Praxis-Info!
Problemstellung
Im Ausgangsfall warf der Kläger die Frage auf, ob ein Verspätungszuschlag nach § 152 Abs. 2 AO eine Strafnorm im Sinne von Art. 6 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sei und somit eine Entschuldigungsmöglichkeit und ein überprüfbares Ermessen des Zuschlags vorliegen muss. Dies wurde vom erstinstanzlichen Finanzgericht verneint und die Revisionsmöglichkeit versagt. Gegen die Versagung der Revision wurde vom Kläger eine Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt.
Lösung
Im Kern geht es um das Risiko, dass Staaten das Recht auf ein faires Strafverfahren dadurch umgehen, dass sie aus einen seinem Inhalt nach strafrechtlichen Verfahren ein disziplinar- bzw. ordnungswidrigkeitsrechtliches Verfahren machen. Ob eine Strafnorm vorliegt, wird dabei nach den sogenannten „Engel-Kriterien“ bestimmt (nicht auf göttlichen Beistand sinnend, sondern nach dem Gerichtsverfahren „Engel ./. Niederlande“ benannt):
- Eine Norm hat strafrechtlichen Charakter, wenn sie nicht in erster Linie einen finanziellen Ausgleich für einen Schaden gewähren soll, sondern sowohl abschreckende (präventive) als auch bestrafende (repressive) Zwecke verfolgt.
- Die begangene Tat zieht eine Sanktion nach sich, die aufgrund ihrer Art und Schwere in den strafrechtlichen Bereich fällt. Dabei ist weniger auf die im konkreten Einzelfall verhängte Sanktion, sondern auf die im Gesetz angedrohte Höchstsanktion abzustellen.
Anhand der beiden Kriterien legt der BFH dar, warum es sich bei § 152 Abs. 2 AO nicht um eine Strafnorm handelt. Zwar hat ein Verspätungszuschlag repressiven und präventiven Charakter, welcher aber nicht die vorrangige Funktion der Bestrafung von begangenem Unrecht hat. Vielmehr besteht der Sinn darin, eine verfahrensrechtliche Pflichtverletzung im Hinblick auf die dadurch typischerweise bewirkte Verzögerung des Ablaufs im Verwaltungsverfahren zu sanktionieren. Eine solche Sanktion ist typischerweise nicht mit einem sozial-ethischen Unwerturteil verbunden.
Die angedrohten Höchstsanktionen sprechen auch gegen eine Zuordnung zum Strafrecht, da typische strafrechtliche Sanktionen wie Freiheitsentziehung oder die Eintragung ins Strafregister nicht vorgesehen sind. Auch lässt der im Streitfall festgesetzte Verspätungszuschlag von 275 € (ca. 2% der festgesetzten Steuer) keine wesentliche Bestrafung erkennen.
Im Weiteren legt der BFH dar, warum die Nichtzulassung der Revision somit rechtmäßig war, und weist die Beschwerde ab.
Christian Thurow, Dipl.-Betriebsw. (BA), Senior Business Audit Manager, London (E-Mail: c.thurow@thurow.co.uk)
BC 6/2024
BC20240715