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Steuerbilanzen: Subjektiver Fehlerbegriff auf dem Prüfstand

BC-Redaktion

BFH-Pressemitteilung vom 19.5.2010 (Nr. 44)

BFH-Vorlagebeschluss vom 7.4.2010 (I R 77/08)

Mit Vorlagebeschluss vom 7.4.2010 (I R 77/08) hat der I. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) den Großen Senat des BFH zur Klärung einer bilanzsteuerrechtlichen Grundsatzfrage angerufen.

Für die Beurteilung, ob eine beim Finanzamt eingereichte Bilanz „fehlerhaft“ in dem Sinne ist, dass sie vom Steuerpflichtigen nachträglich berichtigt werden und dass das Finanzamt sich von den Bilanzansätzen des Steuerpflichtigen lösen kann, gilt nach der Rechtsprechung des BFH ein durchweg subjektiver Maßstab. Maßgeblich ist danach grundsätzlich der Kenntnisstand eines ordentlichen und gewissenhaften Kaufmanns zum Bilanzstichtag. Bislang wendet die Rechtsprechung diesen subjektiven Fehlerbegriff auch auf die Beurteilung reiner Rechtsfragen an. Das hat bei ungeklärten bilanzrechtlichen Zweifelsfragen zur Folge: Sowohl der Bilanzierende als auch das Finanzamt sind an die eingereichte Bilanz gebunden, selbst wenn sich später aufgrund einer Entscheidung des BFH herausstellt, dass die Rechtsfrage anders zu beantworten ist.

Das hat der I. Senat des BFH nun zur Überprüfung durch den Großen Senat gestellt. In dem zu beurteilenden Fall geht es darum, ob ein Mobilfunkunternehmen für Vermögensminderungen aus der verbilligten Abgabe von Mobiltelefonen beim Neuabschluss eines Mobilfunkvertrages einen sog. aktiven Rechnungsabgrenzungsposten in seiner Bilanz hätte bilden müssen, was zu einer höheren Steuer führen würde. Das Mobilfunkunternehmen hatte das verneint. Der I. Senat des BFH ist grundsätzlich anderer Auffassung. Da die Streitfrage aber zum Bilanzierungszeitpunkt ungeklärt und nicht eindeutig zu beantworten war, wäre die Bilanz bei Anwendung des subjektiven Fehlerbegriffs aus der Sicht des Mobilfunkunternehmens nicht als fehlerhaft anzusehen, weshalb sie das Finanzamt der Besteuerung zugrunde legen müsste. Der I. Senat des BFH spricht sich demgegenüber für die Maßgeblichkeit der objektiven Rechtslage aus.

 

 

Praxis-Info!

 

 

Geldwerte Sachleistungen als Vermögensminderung

 

Nach Auffassung des Senats waren im Streitfall die Voraussetzungen für die Bildung eines aktiven Rechnungsabgrenzungspostens (gemäß § 5 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 EStG) gegeben. Durch die verbilligte Überlassung von Mobiltelefonen entstehen Betriebsvermögensminderungen, die im Rahmen einer aktiven Rechnungsabgrenzung (RAP) periodengerecht über die Laufzeit des Mobilfunkdienstleistungsvertrags abzugrenzen sind. Eine Vermögensminderung setzt nicht notwendig einen Zahlungsvorgang voraus, sondern kann auch in der Buchung einer Verbindlichkeit bestehen oder durch geldwerte Sachleistungen entstehen.

Die durch die verbilligte Überlassung der Mobiltelefone vor dem Abschlussstichtag erfolgte Ausgabe war

Aufwand des Mobilfunkunternehmens (Vorleistung)

für eine bestimmte Zeit nach diesem Tag (noch nicht erbrachte zeitraumbezogene Gegenleistungen der Kunden in Form von monatlichen Grundgebühren und Gesprächsgebühren).

Anders ausgedrückt: Aufgabe der Rechnungsabgrenzungsposten ist es, im Falle gegenseitiger Verträge, bei denen Leistung und Gegenleistung zeitlich auseinanderfallen, die Vorleistung des einen Teils in das Jahr zu verlegen, in dem die nach dem Vertrag geschuldete Gegenleistung des anderen Teils erbracht wird. Entscheidend ist die wirtschaftliche Betrachtungsweise und nicht deren zivilrechtliche Beurteilung.

Sofern bei vorzeitiger Beendigung des Mobilfunk-Dienstleistungsvertrags – aus wichtigem Grund – keine Verpflichtung des Kunden zur Rückgabe des Mobiltelefons bzw. keine Rückzahlungspflicht besteht, wird hierdurch die Bildung des aktiven RAP nicht ausgeschlossen.

 

 

Erkenntnisse am versus nach dem Zeitpunkt der Bilanzaufstellung

 

Ein Bilanzansatz ist – nach bestehender Rechtsprechung – nur dann fehlerhaft, wenn der Steuerpflichtige den objektiv gegebenen Rechtsverstoß nach den Erkenntnismöglichkeiten eines ordentlichen Kaufmanns im Zeitpunkt der Bilanzaufstellung – bezogen auf die am Bilanzstichtag objektiv bestehenden Verhältnisse – erkennen konnte.

Im vorliegenden Streitfall existierte bis zum Zeitpunkt der Aufstellung der Bilanz des Mobilfunkunternehmens (Streitjahr vor Beginn der Außenprüfung am 3.4.2000) weder eine Rechtsprechung noch Literatur zur spezifischen Frage der Bildung eines aktiven RAP bei verbilligter Überlassung von Mobiltelefonen. Die Frage, ob auch Vermögensminderungen durch geldwerte Sachleistungen zu einer „Ausgabe“ im Sinne des § 5 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 EStG führen können, war auch damals im Schrifttum umstritten. Demnach kann das Unterlassen der Aktivierung des RAP durch das Mobilfunkunternehmen nicht als Verstoß gegen die kaufmännische Sorgfalt angesehen werden; die Bilanz war im beschriebenen Sinne subjektiv nicht fehlerhaft.

 

Praxishinweise:

  • Für die Fälle, in denen die Rechtslage zum Zeitpunkt der Bilanzaufstellung ungeklärt ist, weil noch keine Rechtsprechung zu der in Rede stehenden Bilanzierungsfrage ergangen ist, ist – nach bestehender Rechtsprechung – jede der kaufmännischen Sorgfalt entsprechende Bilanzierung als „richtig“ anzusehen. Dies gilt auch dann, wenn die Rechtsfrage nach diesem Zeitpunkt – ob zugunsten oder zuungunsten des Steuerpflichtigen – durch eine höchstrichterliche Entscheidung entschieden worden ist.
  • Eine der jüngsten Entscheidungen, in denen sich der BFH so entschieden hat, betrifft die „Rückstellungen für künftige Kosten der Aufbewahrung von Geschäftsunterlagen“ (u.a. BFH-Urteil vom 17.7.2008, I R 85/07, siehe  hier). In einem solchen Fall sei der objektiv gegebene Bilanzierungsfehler bei derjenigen Veranlagung zu korrigieren, der die erste nach dem Offenbarwerden des Fehlers aufgestellte Bilanz zugrunde liegt.
  • Wann bei Änderung der Verwaltungsauffassung aufgrund erstmaliger höchstrichterlicher Rechtsprechung eine Bilanzberichtigung möglich ist, beantwortet u.a. die OFD Hannover (Verfügung vom 13.3.2008, S 2141 – 15 – StO 222/221) – siehe hier.
  • In der Handelsbilanz gilt (seit dem Bilanzrichtliniengesetz vom 19.12.1985) der Grundsatz: Im Jahresabschluss sind alle „vorhersehbaren“ Risiken und Verluste, die bis zum Abschlussstichtag entstanden sind, zu berücksichtigen, auch wenn diese erst zwischen dem Abschlussstichtag und dem Tag der Aufstellung bekannt geworden sind (§ 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB). Allerdings bestehen (in der Literatur) unterschiedliche Auffassungen zu der Frage, ob die Erkenntnismöglichkeiten des gewissenhaften und pflichtgemäß handelnden Kaufmanns zum Zeitpunkt der Bilanzaufstellung oder zum Zeitpunkt der Feststellung der Bilanz maßgeblich sein sollen.

Zu der bislang in der Rechtsprechung vertretenen Auffassung (siehe oben) will nunmehr der I. Senat des BFH eine Bestätigung bzw. Änderung durch den Großen Senat des BFH einholen bzw. herbeiführen. Grund: Der I. Senat ist – zumindest in engen Grenzen – gegenteiliger Ansicht. Demnach wäre das Finanzamt bei der ertragsteuerlichen Gewinnermittlung in Bezug auf zum Zeitpunkt der Bilanzaufstellung

ungeklärte Rechtsfragen und

– wenn die Bilanz auf der Basis einer bislang von der BFH-Rechtsprechung gebilligten Bilanzierungspraxis bzw. Verwaltungsauffassung aufgestellt worden ist und der BFH diese Rechtsprechung nach dem Zeitpunkt der Bilanzaufstellung ändert (nachträgliche Änderung der Rechtsprechung)

nicht an die Auffassung gebunden, die der vom Steuerpflichtigen eingereichten Bilanz zugrunde liegt.

Andernfalls besteht hinsichtlich der Beantwortung ungeklärter Bilanzierungsfragen eine wahlrechtsähnliche Situation; der Steuerpflichtige kann sich für eine von mehreren vertretbaren Rechtspositionen entscheiden. Dies birgt Konfliktpotenzial zwischen Steuerpflichtigem und Finanzverwaltung im Veranlagungs- und Betriebsprüfungsverfahren und kann auch für den Steuerpflichtigen von Nachteil sein.

 

[Anm. d. Red.]
  
  

BC 6/2010

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