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Zur Problematik des „Digitalen Nomadentums“ und der Begründung einer Niederlassung

Christian Thurow

BGH Beschl. v. 29.6.2023 – IX ZB 35/22

 

Im Zuge der Corona-Pandemie hat das Arbeiten im Home-Office starke Verbreitung gefunden. Doch – warum im Home-Office in Hintertupfingen arbeiten, wenn man auch in Thailand am Strand sitzen kann? Insbesondere in der IT-Branche ist ein solches digitales Nomadentum im Trend. Aber auch bei eher traditionellen Rollen, wie dem Aufsichtsratsvorsitz einer Aktiengesellschaft, kann sich diese Frage stellen, von welchem Ort die Tätigkeit dabei ausgeübt wird. Der BGH ruft diesbezüglich zur Klärung den EuGH an.


 

Praxis-Info!

 

Problemstellung

Über das Vermögen des Klägers, welcher als Aufsichtsratsvorsitzender einer deutschen Aktiengesellschaft tätig war, wurde das Insolvenzverfahren eröffnet. Im Zeitpunkt der Insolvenzantragstellung unterhielt der Schuldner Wohnsitze in Berlin, Monaco, Los Angeles und auf der französischen Karibik-Insel Saint-Barthélemy. Das angerufene Amtsgericht lehnte den Antrag wegen fehlender örtlicher Zuständigkeit ab.

Im weiteren Rechtstreit stellte sich die Frage, ob der Kläger im Inland eine Niederlassung hatte. Als „Niederlassung“ im Sinne der Europäischen Insolvenzverordnung gilt gemäß Art. 2 Nr. 10 EuInsVO jeder Tätigkeitsort, an dem der Schuldner einer wirtschaftlichen Aktivität von nicht vorübergehender Art nachgeht und die den Einsatz von Personal und Vermögenswerten voraussetzt. Unstreitig war für die Tätigkeit als Vorsitzender des Aufsichtsrats ein Einsatz von Personal und Vermögenswerten nicht erforderlich.

 

 

Lösung

Der BFH legt den Fall dem EuGH zur Klärung der folgenden Fragen vor:

  • Frage 1: Stellt der Tätigkeitsort einer selbstständig gewerblich oder freiberuflich tätigen natürlichen Person auch dann eine Niederlassung dar, wenn die ausgeübte Tätigkeit keinen Einsatz von Personal und Vermögenswerten voraussetzt?
  • Frage 2, sofern Frage 1 verneint wird: Gilt bis zum Beweis des Gegenteils die Vermutung, dass der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen derjenige Ort ist, an welchem die selbstständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausgeübt wird? Hierbei wäre dann auf den nach außen sichtbaren Teil der Tätigkeit abzustellen. Wo sich der Schuldner aufhält, ist nicht nach außen sichtbar, wohl aber seine Tätigkeit als Vorsitzender des Aufsichtsrats einer in Deutschland ansässigen AG. Die konkretisierte Frage 2 lautet somit: Wäre also der Sitz der AG der Ort, von dem aus die Tätigkeit ausgeübt wird?
  • Frage 3, soweit auch Frage 2 zu verneinen ist: Wäre dann bis zum Beweis des Gegenteils anzunehmen, dass der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts ist?

    Die Klärung dieser Fragen wird nicht nur für das Insolvenzverfahren eines „digitalen Nomaden“ von Bedeutung sein, sondern auch für dessen allgemeine Besteuerung.

Christian Thurow, Dipl.-Betriebsw. (BA), Senior Business Audit Manager, London (E-Mail: c.thurow@thurow.co.uk)

 

 

BC 9/2023

BC2023903

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