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Keine Versagung des Vorsteuerabzugs bei fehlendem Nachweis eines Steuerbetrugs; kein Vertrauensschutz bei sorgfaltswidriger Nichtabfrage der USt-IdNr.

BC-Redaktion

BFH-Urteil vom 11.3.2020, XI R 38/18

 

1. Hat das Finanzamt nicht dargetan, dass ein Steuerbetrug begangen worden ist, kommt eine Versagung des Vorsteuerabzugs nach der sog. Missbrauchs-Rechtsprechung des EuGH nicht in Betracht.

2. Die Nichtabfrage der USt-IdNr. des Empfängers beim Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) zeitnah zur ersten innergemeinschaftlichen Lieferung und darauf folgend in regelmäßigen Abständen während der laufenden Lieferbeziehung kann nach den Umständen des Einzelfalls eine Sorgfaltspflichtverletzung darstellen, die Vertrauensschutz nach § 6a Abs. 4 UStG ausschließt.


Praxis-Info!

 

Problemstellung

Sachverhalt: R-GmbH

Ein Handelsunternehmen (H) bezog von Ende August 2009 bis Anfang September 2010 in größerem Umfang Waren (hier: Getränke) von der R-GmbH. In gleicher Höhe bestellte ein Kunde die Getränke bei H. Die Waren gelangten durch eine von H beauftragte Logistikfirma entweder in das Lager des H oder auf das Betriebsgelände der Logistikfirma, bevor sie zum Kunden des H gebracht wurden. Allerdings handelte es sich um Warenbewegungen im Kreis, da die Waren vom Kunden der H wieder zur R-GmbH gelangten.

Das Finanzamt versagte dem H den Vorsteuerabzug, da H in sog. Umsatzsteuerkarussellketten (betrügerische Aktivitäten der R-GmbH und des Kunden des H) eingebunden gewesen sei. Die R-GmbH als Rechnungsausstellerin habe keine Waren geliefert.

 

 

 

Sachverhalt: B-GmbH

Das Handelsunternehmen (H) bestellte im Juni und Juli 2010 Getränke bei der P-GmbH. Die P-GmbH bezog von Hintermännern unversteuerte Getränke in großen Mengen und erhielt dafür von Dritten Scheinrechnungen über entsprechende Lieferungen. Die Preise wurden von den Hintermännern der P-GmbH diktiert. Danach waren die Preise für die Kunden der P-GmbH gegenüber dem Preis für ordnungsgemäß versteuerte Ware günstig, aber nicht marktunüblich.

In diesem Zusammenhang gab es noch weitere Geschäftsverwicklungen in Verbindung mit der B-GmbH, einem Schwesterunternehmen der P-GmbH. Die B-GmbH bezog ihre Ware in 2010 in einem wesentlichen Umfang von der P-GmbH zur Weiterveräußerung an Dritte im sog. Reihengeschäft. Hierbei wurde auch H beliefert. Die Übermittlung der Lieferdokumente sowie die Rechnungsstellung erfolgten durch die B-GmbH. Allerdings wies jedenfalls ein Teil der Speditionsbelege die P-GmbH als Absender aus.

Das Finanzamt verweigerte wiederum den Vorsteuerabzug aus den Rechnungen der B-GmbH. Begründung: Die Rechnungsausstellerin (B-GmbH) habe entweder keine Waren geliefert oder darüber keine Verfügungsmacht gehabt. Ein Gutglaubensschutz sei ausgeschlossen, da H die Ware nicht bei der B-GmbH, sondern bei der P-GmbH bestellt habe.

 

 

Sachverhalt: J-S.A.R.L.

Am 14.6.2010 bat ein neuer Kunde des Handelsunternehmens (H) – eine Import-Export-Firma aus Luxemburg – um Übersendung einer Preisliste, um eine geschäftliche Basis aufbauen zu können. Auf die Anfrage des H beim Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) teilte dieses am 16.6.2010 mit, die Umsatzsteuer-Identifikationsnummer (USt-IdNr.) der J-S.A.R.L. sei gültig.

Am 6.7.2010 bestellte die J-S.A.R.L. per E-Mail mehrere Paletten mit Getränkemarken (u.a. unter Angabe der Anschrift, Bankverbindung und der luxemburgischen Steuer- und USt-IdNrn.). Eine Spedition brachte die Ware zu der von der J-S.A.R.L. angegebenen Anschrift; der Empfang wurde bestätigt. H hatte sich keine Kopien der Frachtbriefe zukommen lassen. Die Rechnungen wurden in bar durch eine Person bezahlt, deren Personalausweis H kopierte und zu seinen Unterlagen nahm, die jedoch keine schriftliche Legitimation der J-S.A.R.L. o.Ä. vorlegte.

Für später ausgeführte Lieferungen an die J-S.A.R.L. fehlte es allerdings an Verbringungs-/Versandbescheinigungen der Empfängerin. Die streitigen Lieferungen an die J-S.A.R.L. wurden weder vom H noch von der J-S.A.R.L. in das übrige Gemeinschaftsgebiet befördert oder versendet, sondern an Abnehmer im Großraum F (Inland) geliefert. Dementsprechend kam es auch nicht zur Erwerbsbesteuerung bei der J-S.A.R.L. in Luxemburg.

Nach Prüfung durch das Finanzamt war die USt-IdNr. der J-S.A.R.L. seit dem 24.6.2010 nicht mehr gültig. Zudem war die J-S.A.R.L. unter der angegebenen Anschrift nicht aufzufinden und sei daher aus der Liste der Mehrwertsteuerpflichtigen zum 24.6.2010 gelöscht worden.

Am 1.4.2011 teilte das BZSt dem H auf seiner Zusammenfassenden Meldung für das 4. Quartal 2010 mit, dass die USt-IdNr. der J-S.A.R.L. seit dem 24.6.2010 ungültig sei.

Nach Auffassung des Finanzamts hätte H eine Bestätigung über die Gültigkeit der USt-IdNr. der J-S.A.R.L. unmittelbar vor Ausführung der ersten Lieferung am 8.7.2010 einholen müssen (Sorgfaltspflichten).

 

 

Lösung

Sind die materiellen und formellen Voraussetzungen für die Entstehung und Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug erfüllt, kann der Vorsteuerabzug nur versagt werden, wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird. Dies ist nicht nur der Fall, wenn der Steuerpflichtige selbst eine Steuerhinterziehung begeht, sondern auch dann, wenn der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass er mit seinem Erwerb an einem Umsatz teilnahm, der in eine Umsatzsteuerhinterziehung einbezogen ist. Im letzteren Fall hat der Steuerpflichtige alle zur Verfügung stehenden zumutbaren Maßnahmen zu ergreifen, um seine Beteiligung an diesem Steuerbetrug zu verhindern.

Daraus folgt:

  • Das Handelsunternehmen (H) kann die in den Rechnungen der R-GmbH ausgewiesene Vorsteuer für Lieferungen von Getränken in Abzug bringen. Die Lieferungen von der R-GmbH an H und von dieser wiederum an dessen Kunden wurden durchgeführt, und zwar durch die von H beauftragte Logistikfirma. Es besteht kein Scheingeschäft. Das Vorliegen von Lieferungen wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass es sich bei den Lieferungen um Warenbewegungen im Kreis handelte. H hatte keine Kenntnis davon, dass der Vorgang mit einem Umsatzsteuerbetrug behaftet ist. Bei der Umsatzbesteuerung ist jeder Umsatz für sich zu betrachten; vorausgehende oder nachfolgende Ereignisse ändern nichts am Charakter eines bestimmten Umsatzes in einer Lieferkette. Für das Vorliegen objektiver Umstände sowohl für die Kenntnis des H als auch das Vorliegen eines Steuerbetrugs liegt die Feststellungslast beim Finanzamt.
  • Das Handelsunternehmen (H) kann auch die in den Rechnungen der B-GmbH ausgewiesene Vorsteuer für Lieferungen von Getränken in Abzug bringen. Maßgebend für die Entstehung des Rechts auf Vorsteuerabzug ist, dass dessen Voraussetzungen im Zeitpunkt des Leistungsbezugs vorliegen. Leistender kann auch ein sog. Strohmann sein. Das Umsatzsteuerrecht knüpft an tatsächliche Leistungsvorgänge an, weshalb es auf das Vorhandensein zivilrechtlich wirksamer Verträge oder Leistungspflichten nicht ankommt. Maßgeblich ist, dass die Beteiligten das wirtschaftliche Ergebnis dieses Rechtsgeschäfts gleichwohl eintreten und bestehen lassen. Im Zeitpunkt der Lieferung (durch Annahme der Ware im Lager des H) hat die B-GmbH die Ware im eigenen Namen geliefert. Auf das Schicksal der ursprünglichen schuldrechtlichen Verpflichtung kommt es insofern nicht an. Das bloße Vorliegen einer Kette von Umsätzen und die bloße Vermutung des Finanzamts, wonach H die Verfügungsmacht über die Ware tatsächlich nicht von der B-GmbH, sondern von der P-GmbH erhalten habe, rechtfertigen nicht die Schlussfolgerung, dass deshalb kein Umsatz zwischen der B-GmbH und H bewirkt worden sei. H wusste nicht oder hätte auch nicht davon wissen können, dass der Umsatz in eine Umsatzsteuerhinterziehung einbezogen war.
  • Im Fall der J-S.A.R.L. ist der Vertrauensschutz (nach § 6a Abs. 4 UStG) zu versagen, da zeitnah zur ersten Lieferung und darauf folgend in regelmäßigen Abständen während der laufenden Lieferbeziehung die USt-IdNr. der J-S.A.R.L. nicht abgefragt wurde. Es fehlte an der nötigen Sorgfaltspflicht. Die Voraussetzungen einer innergemeinschaftlichen Lieferung (im Sinne von § 6a Abs. 1 S. 1 UStG) sind schon deshalb nicht erfüllt, weil die streitigen Getränkelieferungen an die J-S.A.R.L. weder von H noch von der J-S.A.R.L. in das übrige Gemeinschaftsgebiet befördert oder versendet, vielmehr an Abnehmer im Großraum F geliefert wurden. H hätte die Unrichtigkeit der Angaben der J-S.A.R.L. (Angabe einer ungültigen USt-IdNr.) bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns erkennen können. H hätte unmittelbar vor Ausführung der ersten Lieferung und darüber hinaus erneut in regelmäßigen Abständen qualifizierte Abfragen der USt-IdNr. beim Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) stellen sollen.

 

 

 

Praxishinweise:

  • Das Aufzeichnen einer jeweils gültigen USt-IdNr. (und damit auch deren Überprüfung) ist eine eigenständige Pflicht des Steuerpflichtigen (gemäß § 17c UStDV).
  • Die Bestätigung von ausländischen USt-IdNrn. führt das BZSt kostenfrei durch. Die qualifizierte Bestätigungsabfrage mit Angaben zu Name, Ort, Postleitzahl und Straße des Geschäftspartners der USt-IdNr. ist zwar keine Voraussetzung für die Steuerfreiheit der innergemeinschaftlichen Lieferung, sie bildet aber die Grundvoraussetzung für einen möglichen Vertrauensschutz nach § 6a Abs. 4 UStG. Der Anfragende wird zunächst gebeten, sich mit seiner eigenen USt-IdNr. zu identifizieren und dann die einfache Bestätigungsanfrage für eine USt-IdNr. aus einem anderen EU-Mitgliedstaat durchzuführen (= Gültigkeit einer USt-IdNr.). Wird die angegebene USt-IdNr. als nicht gültig erkannt, ist keinerlei weitergehende Anfrage möglich.
  • Soweit die angegebene USt-IdNr. jedoch als gültig bestätigt werden kann, erfolgt die automatisierte Weiterleitung zur qualifizierten Bestätigungsanfrage. Der Abfragende muss, wie auch beim manuellen Verfahren, alle erforderlichen Angaben (zur Anschrift des ausländischen Abnehmers) machen: Firmenname (einschließlich der im Handelsregister vermerkten Rechtsform), Firmenort, Postleitzahl und Straße. Diese Angaben werden dann einzeln mit den in der Unternehmerdatei des jeweiligen EU-Mitgliedstaats registrierten Daten abgeglichen, zu denen der Anfragende die Information „stimmt“ oder „stimmt nicht“ erhält.
  • Wer jedoch unvollständige und unzutreffende Beleg- und Buchnachweise bei innergemeinschaftlichen Lieferungen führt (z.B. fehlende Bestellunterlagen, keine Möglichkeit der Zuordnung der Unterschrift auf dem Verbringungsnachweis und der Empfangsbestätigung), muss mit einer Besteuerung dieser Umsätze rechnen. Da kann auch die Einholung einer qualifizierten Bestätigungsabfrage zur USt-IdNr. des Abnehmers (im EU-Ausland) nicht mehr Abhilfe schaffen.

 

 

[Anm. d. Red.]

 

 

BC 9/2020

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