Dr. Stefanie Becker
EuGH-Urteil vom 15.4.2021, Rs. C-868/19 „M-GmbH“
Die deutsche Finanzverwaltung ist der Auffassung, dass Personengesellschaften nur dann Organgesellschaften sein können, wenn neben dem Organträger lediglich Gesellschafter an ihr beteiligt sind, die finanziell in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert sind. Derselben Auffassung ist der V. Senat des BFH.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) teilt diese einschränkende Auffassung in seinem aktuellen Urteil jedoch nicht. Es sollten hier vielmehr die gleichen Kriterien wie für juristische Personen gelten. Die Finanzverwaltung bleibt an ihre abweichende Sichtweise gebunden. Unternehmer können sich jedoch auf die für sie gegebenenfalls günstigere Rechtsprechung des EuGH berufen.
Praxis-Info!
Hintergrund zur Entscheidung
Der EuGH urteilte bereits im Jahr 2015 in der Rechtssache „Larentia + Minerva & Marenave“: Eine pauschale Beschränkung der Organgesellschaften auf juristische Personen, wie sie in der gesetzlichen Regelung in Deutschland steht, ist nicht mit dem Unionsrecht vereinbar. Ausnahmen könnten nur gerechtfertigt sein, wenn dies aufgrund einer Vermeidung von Steuerumgehung erforderlich sei. Der V. Senat des BFH legte die Regelung daraufhin so aus, dass auch eine Personengesellschaft Organgesellschaft sein kann, wenn neben dem Organträger nur Personen Gesellschafter sind, die finanziell in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert sind. Begründung: Der Gesellschaftsvertrag der KG könnte mündlich dahingehend abgeändert werden, dass Beschlüsse einstimmig zu fassen sind, sodass diese Einschränkung aus Gründen der Rechtssicherheit gerechtfertigt sei. Die Finanzverwaltung fasste ihren Umsatzsteuer-Anwendungserlass entsprechend. Der XI. Senat des BFH vertritt hingegen die Auffassung, dass eine GmbH & Co. KG allein aufgrund ihrer kapitalorientierten Struktur Organgesellschaft sein kann.
Die unterschiedlichen Sichtweisen veranlasste das FG Berlin-Brandenburg, den EuGH um Klärung zu bitten, unter welchen Voraussetzungen eine Personengesellschaft Organgesellschaft sein kann. Das Urteil des EuGH liegt nun vor.
Urteil des EuGH vom 15.4.2021 (C-868/19)
In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt scheiterte eine Organschaft mit einer GmbH & Co. KG daran, dass an ihr neben dem potenziellen Organträger weitere Kommanditisten beteiligt waren. Der EuGH sah hierin jedoch kein Hindernis und erteilte dadurch der engen Sichtweise von Finanzverwaltung und des V. Senats des BFH eine klare Absage. Er weist ausdrücklich darauf hin, dass mildere Mittel, wie der Urkundsbeweis oder auch die Bewilligung einer Organschaft, zur Verfügung stünden, weshalb auch aus Gründen der Missbrauchsvermeidung keine Einschränkung erforderlich sei.
Auswirkungen für die Praxis
Dem Unternehmer steht erneut ein Wahlrecht zu, ob er sich an der Auffassung der Finanzverwaltung orientiert oder sich auf die Rechtsprechung des EuGH beruft. Die Finanzverwaltung ist an die engen Vorgaben des Umsatzsteuer-Anwendungserlasses gebunden und kann das Urteil des EuGH nicht zugunsten des Unternehmers anwenden.
Entscheidet sich der Unternehmer für eine Organschaft nach der Rechtsprechung des EuGH, sollte die Abweichung in jedem Fall in der Umsatzsteuer-Voranmeldung bzw. -Jahreserklärung eindeutig gekennzeichnet werden (z.B. durch Eintragung einer „1“ in Feld 23 mit Erläuterung).
Grundsätzlich empfiehlt es sich jedoch, das Finanzamt gesondert über die eigene Rechtsauffassung zu informieren und die Eingliederungsvoraussetzungen eindeutig zu begründen. Auch für die Vergangenheit kann geprüft werden, ob eine Berufung auf das Urteil des EuGH noch möglich ist.
Die Frage, ob eine Organschaft „auf Antrag“ oder – mit den Worten des EuGH – durch „Bewilligung“ der Finanzverwaltung in Deutschland eingeführt werden soll, wird schon seit einigen Jahren diskutiert, wurde aber bisher nicht umgesetzt. Am 13.4.2021 hat das Bundeskabinett ein „Paket für Bürokratieerleichterungen“ beschlossen, worin auch die Einführung einer Antragsabhängigkeit umsatzsteuerrechtlicher Organschaften vorgesehen ist. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Reformvorhaben zeitnah umgesetzt wird. In jedem Fall würde es einen großen Schritt in Richtung Rechtssicherheit darstellen und könnte Risiken aus Umsatzsteuer-Nachforderungen aufgrund fehlerhaft gelebter oder nicht gelebter Organschaften minimieren.
Daneben sind noch Verfahren beim EuGH zur Frage der deutschen Organschaftsregelung anhängig, inwieweit die Regelung insgesamt unionsrechtskonform ist. Aus dem nun vorliegenden Urteil des EuGH ließe sich der Schluss ziehen, dass der EuGH eine grundsätzliche Unionsrechtskonformität annimmt, da er die Organschaft nach deutschem Verständnis im Vorlagefall nicht infrage stellt. Da der EuGH jedoch immer nur auf konkrete Rechtsfragen antwortet und diese Frage hier nicht gestellt wurde, müssen die noch ausstehenden Entscheidungen abgewartet werden.
Dr. Stefanie Becker, Dipl.-Wirtschaftsjuristin, Dipl.-Finanzwirtin (FH), Steuerberaterin, Augsburg (www.umsatzsteuer3.de)
BC 5/2021
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