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Zugänglichkeit europäisch harmonisierter technischer Normen

Prof. Dr. Matthias Rossi ist Professor für Staats- und Verwaltungsrecht, Europarecht sowie Gesetzgebungslehre an der Universität Augsburg und Schriftleiter der ZGI.

ZGI 2024, 101   Europäisch harmonisierte technische Normen müssen als Bestandteil des Unionsrechts frei – und das heißt vor allem auch kostenfrei – zugänglich sein. Das hat der EuGH mit Urteil v. 5.3.2024 entschieden (s. ZGI 2024, 117 f.) und damit nach längerer Zeit einmal wieder ein Grundsatzurteil zur Transparenzverordnung der EU (VO (EG) 1049/2001) getroffen.

Geklagt hatten zwei gemeinnützige Organisationen, die Public.Ressource.Org Inc. mit Sitz in den U. S. A., nach deren Gründer das Urteil zT auch als „Malamud“-Entscheidung bezeichnet wird, und die Right to Know CLG mit Sitz in Irland. Ihr Antrag auf Zugang zu vier harmonisierten technischen Normen, darunter auf die Normung für die Spielzeugsicherheit, wurde von der Kommission am 15.11.2018 unter Berufung auf die Ausnahmeregelung in der Transparenzverordnung zugunsten des Urheberrechtsschutzes abgelehnt. Ihre dagegen gerichtete Nichtigkeitsklage blieb vor dem EuG zunächst ohne Erfolg, sie wurde mit Urteil v. 15.7.2021 abgewiesen. Dieses Urteil indes hat der EuGH mit einer Entscheidung der Großen (!) Kammer nunmehr aufgehoben, wie es zuvor schon die Generalanwältin Laila Medina in ihren Schlussanträgen v. 22.6.2023 empfohlen hat. Es hat klargestellt, dass (nach europäischem Recht) harmonisierte technische Normen für jeden (kosten-)frei zugänglich sein müssen.

Das Urteil betrifft den Bereich der sog. harmonisierten technischen Normung, mithin die praktisch überaus bedeutende Verzahnung von hoheitlicher und privater Regelsetzung. Bereits im Weißbuch von 1985 hat sich die Kommission dem sog. „New Approach“ verschrieben, um die Zersplitterung der technischen Produktspezifikationen zwischen den Mitgliedstaaten zu beseitigen und den freien Warenverkehr innerhalb der EU zu fördern. Seit 2012 gilt zudem die VO (EU) 1025/2012 zur europäischen Normung. Sie hat das Ziel, technische und qualitätsbezogene Standards von Produkten festzulegen. Werden solche harmonisierten Normen angewendet, partizipieren sie an der Vermutungswirkung, dass sie im Einklang mit den entsprechenden rechtlichen Anforderungen stehen. Im Ergebnis kann sich die EU-Rechtsetzung somit auf generelle Rahmenregelungen beschränken und die Details privaten Normungsinstitutionen überlassen. Soweit die Kommission bei diesen Organisationen Normen in Auftrag gibt, spricht man von „mandatierten Normen“. Werden sie akzeptiert und im Amtsblatt der EU veröffentlicht, werden sie als „harmonisierte Normen“ bezeichnet. Stets ist die Anwendung dieser Normen freiwillig, Herstellern und sonstigen Wirtschaftsakteuren steht es also frei, die 

Konformität von Produkten, Dienstleistungen und Verfahren mit entsprechenden EU-Rechtsvorschriften auch auf anderem Wege nachzuweisen. Der jetzt vom EuGH entschiedene Streit resultiert aus dem Umstand, dass im Amtsblatt stets nur die Fundstelle, nicht der Inhalt der harmonisierten technischen Normen publiziert wird, der vielmehr nur gegen Gebühr von den Normungsinstitutionen zu beziehen ist.

Das jetzige Urteil baut auf der bisherigen Rechtsprechung auf und setzt sie fort. Bereits im Urteil Fra.bo v. 12.7.2012 (Rs. C-171/11) hat der EuGH festgestellt, dass nationale Normungs- und Zertifzierungseinrichtungen trotz ihres privatrechtlichen Charakters hoheitliche Befugnisse ausüben können und dass technische Normen ungeachtet der Freiwilligkeit ihrer Befolgung faktisch verbindlich wirken können. Zudem hat der EuGH im Urteil James Elliott v. 27.10.2016 (Rs. C-613/14) festgestellt, dass harmonisierte technische Normen Teil des Unionsrechts sind. Und drittens hat der EuGH im Urteil Stichting v. 22.2.2022 (Rs. C-160/20) klargestellt, dass von privaten Normungsinstitutionen erarbeitete Normen verbindlich gemacht werden können.

Vor diesem Hintergrund erscheint es konsequent und vor allem rechtspolitisch nachvollziehbar, dass der EuGH nunmehr die allgemeine und kostenfreie Zugänglichkeit harmonisierter technischer Normen nach Maßgabe der Transparenzverordnung bestätigt hat. Der EuGH hat zur Begründung nicht nur die primärrechtlichen Grundlagen der Transparenz betont, nämlich Art. 15 Abs. 3 AEUV sowie Art. 42 GRCh. Er hat vor allem auf die Veröffentlichung der (Fundstellen) der harmonisierten technischen Normen im verbindlichen Teil L des Amtsblatts der EU rekurriert, auf die Einbindung der Kommission in das Verfahren zur Ausarbeitung harmonisierter Normen sowie auf die Partizipation an der Vermutungswirkung derjenigen Normen, denen das fragliche Produkt entsprechen muss. Aus einer Zusammenschau dieser Argumente hat der EuGH die Schlussfolgerung gezogen, auch die privatrechtlich harmonisierten technischen Normen seien Teil des (hoheitlichen) Unionsrechts und müssten schon und allein deshalb frei zugänglich sein.

Diese Entscheidung überzeugt indes allenfalls im Ergebnis und auch dann nur bei grober Betrachtung. Rechtspolitisch spricht bei der Verzahnung von staatlicher und privater Regelsetzung einiges dafür, sämtliche von privaten Normungsinstitutionen erlassene Regeln frei zugänglich zu gestalten. Im digitalen Zeitalter sollte freie Zugänglichkeit stets gleichbedeutend sein mit ortsunabhängiger Verfügbarkeit – die bloße Bereitstellung in analogen Leseräumen wirkte antiquiert. Indes müsste eine solche rechtspolitische Entscheidung auch mit entsprechenden finanziellen Konsequenzen für die Normungsinstitutionen verbunden sein. Wenn ihre Ergebnisse der Allgemeinheit kostenlos zur Verfügung stehen sollen, muss ihre Arbeit eben auch von der Allgemeinheit finanziert werden. Dies wäre eine Entscheidung, die die demokratisch legitimierten Rechtsetzungsorgane treffen müssten und treffen könnten.

Der EuGH setzt sich mit solchen Fragen aber nicht auseinander und – schlimmer noch – über andere Fragen schlicht hinweg. Er macht den zweiten Schritt vor dem ersten, wenn er eher behauptet als begründet, dass an der Verbreitung der harmonisierten technischen Normen ein überwiegendes öffentliches Interesse besteht, ohne jedoch zu prüfen, ob möglicherweise ein privates Interesse entgegensteht und wie es zu gewichten ist. Vielmehr interpretiert er den Abwägungsvorbehalt der Transparenzverordnung als Freibrief für eine allgemeine Zugänglichkeit: Ist das öffentliche Interesse an einer Zugänglichkeit nur groß genug, ist es egal, ob, welche und wie zu gewichtende andere Interessen gegen eine Zugänglichkeit sprechen. Damit konterkariert er jedoch die Transparenzverordnung, die die Ausnahmen von der allgemeinen Zugänglichkeit gerade keiner allgemeinen Rückausnahme unterwirft, sondern von einer Abwägung im Einzelfall abhängig macht. Der EuGH hätte also die Frage beantworten müssen, der er bewusst ausgewichen ist und die doch ganz entscheidend war, der Frage nämlich, ob der Erlass privater Normen urheberschutzfähig ist oder nicht. De lege ferenda kann der Urheberrechtsschutz sicherlich ausgeschlossen werden, de lege lata hingegen ist nicht erkennbar, warum die Ausarbeitung privater Normen nicht als Werk Urheberrechtsschutz genießen können sollten.

Justitia trägt bekanntlich eine Binde, um ungeachtet des Ansehens der Person „objektiv“ Recht sprechen zu können. Für den Bereich des Informationsfreiheitsrechts – des nationalen wie des europäischen – scheint dies auch deshalb opportun, weil die Zugangsansprüche unabhängig von subjektiven Voraussetzungen und insbesondere auch unabhängig von individuellen Zwecksetzungen gewährt werden. Das macht Justitia aber eben auch blind für die wahren oder jedenfalls wirklichen Motive, die mit manchen Zugangsanträgen und entsprechenden Klagen verfolgt werden. NGOs stehen moralisch schon aufgrund dieser (von wem auch immer vorgenommenen) Qualifizierung für „das Gute“, man verbindet sie nicht auf den ersten Blick mit „bösen“ Lobbygruppen. Und wenn sie sich dann noch „Public.Ressource.Org“ und „Right to Know“ nennen, dann scheint ihr Einsatz für eine demokratisch-egalitär und rechtsstaatlich-freiheitlich begründete umfassende Transparenz ebenso glaub- wie unterstützungswürdig. Möglicherweise bewertete man ihr Engagement anders, wenn transparent wäre, wer hinter ihnen steht, wer sie finanziert, wer sie lenkt oder zumindest beeinflusst. Sie könnten dann vielleicht als Instrumente mächtigster Interessengruppen erkannt werden, die über Gerichte diejenigen rechtspolitischen Ziele durchzusetzen wollen, die sie durch die unmittelbar demokratisch legitimierten Organe nicht erreichen können. Justitia kann die Augen hinter der Binde geschlossen lassen, aber die übrigen Sinne muss sie scharf lassen, den Verstand darf sie nicht ausschalten. Juristisch und dogmatisch saubere Argumentation helfen der Versuchung zu widerstehen, primär rechtspolitisch begründete Entscheidungen zu sprechen. Das gilt für das ideologisch aufge- und häufig überladene Informationsfreiheitsrecht in besonderer Weise.

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