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Die Offenheit des Staates und repräsentative Demokratie in Zeiten sozialer Medien und digitaler Transformation

Dr. Dorothea Mund, LL. M. (George Washington University), hat zum „Recht auf menschliche Entscheidung“ am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Finanzrecht und Steuerrecht von Prof. Gregor Kirchhof, LL. M. (Notre Dame), an der Universität Augsburg promoviert.

ZGI 2024, 249   Digitalisierung und digitale Transformation beschäftigen staatliches Handeln, können die menschliche Willensbildung beeinflussen und richten sich als Auftrag an den Gesetzgeber. Digitalisierung und digitale Transformation bedeuten aber auch, dass sich Diskurs, politischer Aktivismus, Informationsbeschaffung sowie Meinungsbildung und andere demokratische Prozesse zunehmend in den digitalen Raum, namentlich auf Plattformen der sog. sozialen Medien, verlagern. Während dies einerseits alarmierende Tendenzen und potenziell demokratiegefährdende Meinungsbildung durch Deep Fakes, Fake News und Chatbots, deren Nutzerprofile oftmals nicht mehr von einem menschlichen Profil zu unterscheiden sind, zutage bringt, eröffnen sich durch die Digitalisierung und digitale Transformation auch völlige neue Räume und Möglichkeiten, könnten zuweilen die Debattenkultur und demokratische Prozesse gefördert und gestärkt werden.

So kann zwar einerseits die „algorithmisch flankierte … [oder] gelenkte[…] Meinungsbildung im Internet“ (Kment ZGI 2024, 149 f.) eine Gefahr für die freiheitlich demokratische Grundordnung darstellen. Man denke an dieser Stelle nur an den gezielten Einsatz von sog. KI-Deepfakes, die vor Wahlen gezielt eingesetzt werden, um Wähler zu beeinflussen, und mithin durch gezielte Desinformation eine Bedrohung für die freie demokratische Meinungsbildung darstellen können. Darüber hinaus nehmen auch Cyberangriffe eine zunehmende Rolle im Zusammenhang mit demokratischen Prozessen ein – wie sog. Hack-and-Leak-Operationen, bei denen Daten und Informationen aus dem politischen Umfeld gestohlen und dann – teilweise manipuliert – veröffentlicht werden.

Andererseits eröffnen die Plattformen der sog. sozialen Netzwerke neue Debattenräume, Informationskanäle und eine enorme, grenzüberschreitende Reichweite von Informationen. Gelingt es dem Gesetzgeber, diese Räume und Wege in geordnete Bahnen zu lenken, etwa wie durch Maßnahmen der Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung harmonisierter Vorschriften für künstliche Intelligenz (KI-Verordnung oder AI Act) oder durch das Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG), lässt sich ein bisher ungeahntes Potenzial für Teilhabe, politischen Aktivismus, die Versammlungsfreiheit und die Meinungsbildung aus

schöpfen. So zeigt zB der politische Aktivismus – vor allem im amerikanischen und internationalen Raum – um den Israel-Gaza-Konflikt eine massive Verlagerung in die digitale Sphäre. Die sozialen Medien ermöglichten dabei weltweiten kultur- und religionsübergreifenden Austausch, Informationsbeschaffung, Diskussion und die politische Vernetzung einer ganzen Nutzergeneration. Der sog. digitale Aktivismus brachte weltweit eine hohe Zahl an Menschen auf die Straße und hat am Ende – Erwähnung finden muss an dieser Stelle auch das #uncommitted Movement vor allem amerikanischer Demokraten – auch auf die US-Präsidentschaftskandidatur von Joe Biden erheblichen Einfluss genommen.

Als echte Gefährdung des Raums für Meinungsbildung und Meinungsfreiheit und die Freiheit des Einzelnen stellt sich jedoch Hasskriminalität in den sozialen Netzwerken dar. Dass demokratische Prozesse der digitalen Meinungsfreiheit und digitalen Teilhabe durch digitale Gewalt und digitale Zensur gefährdet sind, darauf macht zB die gemeinnützige Gesellschaft HateAid aufmerksam – und bietet juristischen Beistand und begleitet die Politik durch Gutachten, Fachgespräche und Stellungnahmen. Laut der Studie „Lauter Hass, leiser Rückzug“ hat fast jede zweite Person schon Beleidigungen im Netz erlebt, 41 % der Betroffenen zogen sich infolgedessen vollständig aus dem Diskurs zurück (https://hateaid.org/wp-content/uploads/2024/04/Studie_Lauter-Hass-leiser-Rueckzug.pdf). Dabei sind vor allem Frauen von digitaler Gewalt betroffen – mit der dramatischen Konsequenz, dass 52 % der Frauen ihre Meinung im Internet seltener äußern. Unter den männlichen Befragten gaben 43 % an, ihre Meinung weniger zu äußern (https://hateaid.org/wp-content/uploads/2024/04/Studie_Lauter-Hass-leiser-Rueckzug.pdf).

Allerdings ist die Meinungsfreiheit als Freiheitsgarant in einem demokratischen Rechtsstaat zwar geschichtlich geprägt, dient aber – aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen – mithin auch und zunehmend dem Schutz demokratischer Willensbildung in der digitalen Sphäre. Zugleich findet die Meinungsfreiheit aber ebenso wie in der analogen Welt auch in der digitalen Sphäre ihre Grenzen im Recht des Anderen – auch dies als Voraussetzung für das gesellschaftliche, demokratiekonstituierende Engagement des Einzelnen und Ausdruck gegenseitiger Verpflichtungen.

Digitalisierung und digitale Transformation müssen daher menschenzentriert bleiben – und letztlich dem menschlichen Wohlergehen, rechtlichen Freiheitsgarantien sowie der Rechtsstaatlichkeit und dem Demokratieprinzip als zentralen Gedanken des Grundgesetzes dienen. Nicht nur die Technik und Algorithmen sind es jedoch, die im Rahmen der Freiheitsschaffung und -gewährleistung in demokratischen Prozessen eine maßgebliche Rolle einnehmen, sondern – und darin liegt der große Unterschied zu Algorithmen – auch ein zum kritischen Denken fähiger, mitfühlender und empathischer menschlicher Geist. Und auch vor dem Hintergrund der Nutzung sozialer Netzwerke – und mit dem grundsätzlichen Vertrauen in die menschliche Willensbildung – unterstellt die repräsentative Demokratie weiterhin „nicht ein identisches Wollen von Herrschenden und Beherrschten, sondern benötigt eine Einhelligkeit über die gleichbleibende Offenheit des Staates, insbesondere die Freiheit zum Andersdenken und zur politischen Opposition“ (Isensee/Kirchhof, HdB des Staatsrechts/P. Kirchhof, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 99 Rn. 152). Der verfassungsrechtliche Auftrag an den Staat bleibt es daher – auch oder insbesondere in der Zeit digitaler Transformation –, Freiheitsräume zu eröffnen, den menschlichen Diskurs und Informationsaustausch zu ermöglichen, zugleich Rücksichtnahme auf die Rechte des Anderen (ggf. strafbewehrt) einzufordern, im Ergebnis „die Kraft zu Frieden und Recht zurück[zu]gewinnen“ (Isensee/Kirchhof, HdB des Staatsrechts/P. Kirchhof, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 99 Rn. 1).


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