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Editorial Heft 4/2022

Von Prof. Dr. Moritz Hennemann, MJur (Oxon.) | Dez 01, 2022
Datenflüsse sind in datafizierten Gesellschaften Normalität. Damit einher gehen nicht nur mannigfaltige wohlfahrtssteigernde Effekte und gesamtgesellschaftliche Potenziale, sondern natürlich auch (neue) Risikolagen. Es besteht deswegen die Ordnungsaufgabe, die unterschiedlichen Interessen angemessen auszutarieren. In Anerkennung technischer und gesellschaftlicher Realitäten ist dabei eine Datenrealpolitik angezeigt. Gesellschafts-, wirtschafts-, industrie-, umwelt- sowie außen-, sicherheitsund verteidigungspolitische Fragestellungen sind zusammen und zusammenhängend zu denken. Die Kontextualität von Daten führt zur Kopplung unterschiedlicher Sub-Systeme. Agrardaten sind ökonomisch wie ökologisch relevant. Geodaten sind für Navigationsdienstleistungen ebenso von Bedeutung wie für militärische Zwecke. Die infrastrukturellen Rahmenbedingungen und damit verbundene (potenzielle) Abhängigkeiten – von weltraumgestützter Kommunikationstechnik bis hin zu Datenformaten und DIN-Standards – sind stets mitzudenken. Umso mehr ist eine Entscheidung angezeigt, ob und in welcher Weise mit dem ‚Produktionsfaktor‘ Daten umgegangen wird.
 
Es ist auch vor diesem Hintergrund sehr zu begrüßen, dass die EU-Kommission mit ihrer Datenstrategie ein Denken in Datenökosystemen in den Vordergrund gerückt hat. Richtigerweise setzt die EU-Kommission auf die Etablierung von Datenräumen (EU Data Spaces). Im Fokus stehen Realphänomene und Sektoren sowie die damit verbundenen Herausforderungen. Übergeordnetes Ziel sind Datennutzbarkeit und Datennutzung. Die Europäische Union unternimmt damit eine signifikante Akzentverschiebung, die in dem bereits in Kraft getretenen Data Governance Act (DGA) bzw. dem im Entwurf vorliegenden Data Act zum Ausdruck kommt. Damit einher geht auch und gerade ein bedeutsamer Schritt zu einem umfassend zu denkenden Datenrecht.

Vor diesem Hintergrund müssen auch die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union entscheiden, in welcher Form sie den Herausforderungen begegnen. Im August 2022 wurde von der Bundesregierung als übergeordnetes Rahmendokument eine Digitalstrategie vorgelegt. Dabei wird auch „ein moderner Rechtsrahmen für die erfolgreiche Entwicklung der Datenökonomie und die verbesserte Nutzung von Daten durch vernetzte Datenräume in Wissenschaft und Forschung, Wirtschaft, Verwaltung und Gesellschaft“ betont (S. 3). Richtigerweise hat eine gesamthaft gedachte Datenpolitik ganz unterschiedliche Handlungsfelder in den Blick nehmen. Es sind die infrastrukturellen Rahmenbedingungen realistisch einzuschätzen und zielführende Bestandsaufnahmen durchzuführen. Bestehende Strukturen sind soweit wie möglich zu nutzen. Die Herstellung von Kompatibilität ist hier oftmals das zentrale Handlungsfeld. Wünschenswert sind hinreichende Schnittstellen und – je nach Einsatzfeld – nutzerfreundliche one stop-Zugriffsmöglichkeiten.

Unabdingbare Voraussetzung für reale Veränderungen ist zudem ein gesellschaftlicher Bewusstseinswandel. Idealerweise wird die Option eines freiwilligen, intrinsisch motivierten Datenteilens stets mitgedacht. Dabei stehen sich kommerzielle und nichtkommerzielle Kontexte gerade nicht diametral gegenüber. Es soll gleichzeitig monetarisiert und „gespendet“ werden (können). Ein entsprechendes mindset gilt es zu kultivieren. Zu einer nachhaltigen Vertrauensbildung gehört es allerdings auch, die real vorhandenen Trade-offs jeglichen datenrechtlichen Zugriffs offen zu kommunizieren. Datenhoheit, Datenqualität, datenbasierte Innovation, Datennutzung, Datenschutz, Datenmärkte, Datenzugang, Datenpartizipation, Datenfluss, Datenlokalisierung und Datensicherheit sind jeweils nicht ohne Abstriche zu haben. Weitere externe Effekte, wie etwa die ökologischen Auswirkungen einer zunehmenden Datenverarbeitung, treten hinzu – und die Möglichkeit zur Ent- und Rekontextualisierung von Daten bedingt einen noch weitergehenden Komplexitätsgrad. Wer einerseits die freie Entscheidung des Individuums betont, muss auch zu den weiteren, oftmals über das Individuum hinausgehenden Effekten Stellung beziehen. Zu kommunizieren ist auch, dass das unionale Datenrecht auf der Normebene auf absehbare Zeit nicht from scratch neuaufgestellt werden wird. Eine Novellierung der DS-GVO ist derzeit schlicht unrealistisch. Umso spannender wird zu beobachten sein, ob künftig die Parameter der DS-GVO „geräuschlos( er)“ verschoben werden (etwa durch die Einführung neuer Rechtsgrundlagen zur Verarbeitung personenbezogener Daten).

Es bleiben allerdings auch den Mitgliedsstaaten datenrechtliche Handlungsspielräume, etwa beim „Behördendesign“ oder auch (vorbehaltlich der EU Datenraum-Regulierung) bei sektorspezifischen Zugriffen. Der aktuelle Koalitionsvertrag zeigt hier an vielen Stellen den Willen zum konkreten Tätigkeitwerden. In vielen Feldern werden Datenzugangsansprüche in Rede stehen, die auch die Digitalstrategie betont (S. 29 ff.). Ebenso besteht (vorbehaltlich der finalen Version des Data Act) die Möglichkeit das AGB-Recht für Datenverträge weiter auszuformen – und dadurch nicht nur mehr Handlungssicherheit zu erzeugen, sondern auch eine zielführende Debatte über zulässige und unzulässige Monetarisierungen von Daten zu führen.

Schließlich ist ein wichtiger Treiber der Datenrealpolitik die Datendiplomatie. Das EU-US Data Privacy Framework sowie der EU-US Trade and Technology Council seien hier nur stellvertretend genannt. Vor diesem Hintergrund erscheint es besonders wichtig, dass die G7-Digitalminister in diesem Jahr das Leitprinzip des „Promoting Data Free Flow with Trust“ ausgerufen haben. Umfasst ist etwa die Förderung der Interoperabilität zwischen Datenschutzregulierungen und die Perspektive internationaler Datenräume. Die geopolitischen Dimensionen sind dabei nicht nur aus aktuellem Anlass stets mitzudenken. Denn eine internationale Datenpolitik mit vertrauenswürdigen Partnern ist auch der Schlüssel, um vernetzte Datenökosysteme grundrechtssensibel, innovations- und gemeinwohlfördernd sowie risikoadäquat zu kalibrieren – und  dadurch mittel- bis langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben.

Der Autor ist Inhaber des Lehrstuhls für Europäisches und Internationales Informations- und Datenrecht sowie Leiter der Forschungsstelle für Rechtsfragen für Digitalisierung (FREDI) an der Universität Passau. Für eine erheblich erweiterte Version dieses Editorials siehe Hennemann, Datenrealpolitik – Datenökosysteme, Datenrecht, Datendiplomatie, University of Passau IRDG Research Paper Series No. 22-18 (November 2022), https://www.jura.uni-passau.de/irdg/publikationen/research-paper-series/.
 
Kontakt:
Prof. Dr. Moritz Hennemann, MJur (Oxon.)
Universität Passau, Juristische Fakultät, Innstr. 39, 94032 Passau
moritz.hennemann@uni-passau.de
 

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