Editorial Heft 2/2022
Von
Prof. Dr. Jürgen Kühling, LL.M. | Nov 30, 2022
Die Europäische Union entwickelt derzeit einen neuen Regelungsrahmen für digitale Märkte. Der Digital Markets Act (DMA) ist Teil dieses Rahmens und wird große Plattformbetreiber einer neuartigen Marktregulierung unterwerfen. Er zielt insbesondere auf die großen „Internetgiganten“, allen voran Google (bzw. Alphabet), Apple, Facebook (jetzt Meta) und Amazon, also die GAFA-Unternehmen.
Warum ist ein solches Regulierungsinstrument in der EU erforderlich? Das bestehende nationale und unionale Wettbewerbsrecht geht von funktionierenden Märkten aus und schützt den Wettbewerb auf diesen Märkten. Allerdings hat sich das Wettbewerbsrecht im digitalen Bereich als nicht schlagkräftig erwiesen. Als Google das Online-Werbeunternehmen DoubleClick und Facebook den Messagingdienstleister WhatsApp übernahmen, erteilte die EU-Kommission diesen Zusammenschlüssen 2008 und 2014 die Freigabe, da sie davon ausging, dass die fusionierten Unternehmen einem ständigen Wettbewerbsdruck ausgesetzt sein würden. Dies wird heutzutage als problematisch angesehen. Google und Facebook dominieren die Online-Werbebranche, Google daneben die Online-Suche und Facebook die sozialen Netzwerke und Messagingdienste. Die Übernahmen können hierzu einen Beitrag geleistet haben. Das zu verhindern, wäre eigentlich Aufgabe der Zusammenschlusskontrolle gewesen. Für die Übernahme von Instagram durch Facebook war nicht einmal eine EU-Zusammenschlussanmeldung erforderlich.
Sobald Unternehmen eine marktbeherrschende Stellung auf den relevanten Märkten erlangt haben, unterliegen sie in der EU einem Verbot missbräuchlichen Verhaltens nach Art. 102 AEUV. In mehreren Fällen konnten jedoch EU-Verfahren wegen missbräuchlichen Verhaltens der Unternehmen der GAFA-Gruppe erst abgeschlossen werden, als die Märkte bereits so gekippt waren, dass es für neue Marktteilnehmer sehr schwierig oder gar unmöglich war, auf den Markt zu kommen. Das Umkippen der Märkte bedeutete auch, dass die Nutzer der Plattformen es immer seltener vermeiden konnten, die Dienste der betreffenden Unternehmen in Anspruch zu nehmen. In einigen Fällen führte dies nach Feststellung der Europäischen Kommission zu einer ungerechten Behandlung der Nutzer. So wurden beispielsweise gewerblichen Nutzern Nachteile beim Ranking ihres Angebots angedroht oder zugefügt, wenn Unternehmen der GAFA-Gruppe deren Produkte in ihr eigenes Portfolio aufnehmen wollten oder wenn die Nutzer ihre Produkte anderswo billiger anboten. Das Bundeskartellamt ist im weltweit viel beachteten Facebook-Verfahren zu dem Ergebnis gekommen, dass Daten von Endnutzerinnen und Endnutzern in großem Umfang missbräuchlich gesammelt und kombiniert wurden. Inzwischen verfestigt sich letztlich der Eindruck, dass digitale Kernmärkte in der EU nicht mehr richtig funktionieren.
Außerdem besteht die EU aus 27 Mitgliedstaaten. Daher wundert es nicht, dass mehrere nationale Wettbewerbsbehörden auf eigene Faust Untersuchungen eingeleitet haben – wie etwa das Bundeskartellamt im besagten Facebook-Verfahren. Außerdem haben die nationalen Gesetzgeber neue Wettbewerbsregeln eingeführt, um die Durchsetzung auf nationaler Ebene zu stärken. Internationale Aufmerksamkeit hat dabei gerade auch das Anfang 2021 beschlossene deutsche GWB-Digitalisierungsgesetz erregt, das insbesondere den neuen § 19a GWB zur Kontrolle von Unternehmen mit überragender marktübergreifender Bedeutung für den Wettbewerb eingeführt hat. In der Zwischenzeit hat das Bundeskartellamt gegen alle GAFA-Unternehmen Verfahren auf Basis der Norm eingeleitet. Diese nationalen Ansätze bringen der EU zwar wertvolle Erkenntnisse über die digitalen Märkte. Aber auf lange Sicht besteht die Gefahr, dass sie den EU-Binnenmarkt fragmentieren.
Der DMA soll vor diesem Hintergrund das bestehende Wettbewerbsrecht, insbesondere die Missbrauchsregeln, ergänzen. Dabei geht der DMA von einem Versagen der Plattformmärkte aus, die sich dauerhaft zu Gunsten sehr großer Plattformen verschoben haben. So besteht das Problem, dass die Unternehmen der GAFA-Gruppe nicht nur auf einzelnen Plattformmärkten tätig sind. Vielmehr bilden sie ganze digitale Ökosysteme, die marktübergreifend agieren. Das heißt, diese Unternehmen vereinen mehrere Produkt- und Dienstleistungsangebote, die über ihre Datenbestände miteinander verbunden sind. Die GAFA-Unternehmen sind aber nicht nur marktübergreifend tätig, sondern können auch marktübergreifend wirtschaftliche Macht aufbauen. Diese Macht geht über die traditionelle Marktmacht hinaus. Der DMA zielt dem entsprechend darauf ab, wirtschaftliche Macht sowohl auf einzelnen Plattformmärkten als auch unabhängig von den Gegebenheiten auf Einzelmärkten zu erfassen und einer besonderen Regulierung zu unterwerfen.
Dem Ansatz der Kommission entsprechend handelt es sich beim DMA um einen Hybrid zwischen dem herkömmlichen Wettbewerbsrecht und einem Regulierungsinstrument. Der DMA enthält Vorgaben, wie sie in der Regulierung der Netzindustrien existieren, um einen diskriminierungsfreien Zugang – beim DMA zur Plattforminfrastruktur – und die dafür zu zahlenden Entgelte zu regeln und die Markttransparenz zu verbessern. Zugleich baut er jedoch in großem Umfang auf der wettbewerbsrechtlichen Entscheidungspraxis der EU-Kommission auf und soll die in bisherigen Einzelentscheidungen angeordneten Abhilfemaßnahmen in die Form allgemeinverbindlicher gesetzlicher Verhaltensvorgaben gießen.
Die Monopolkommission hatte sich in ihrem Sondergutachten 82 dafür eingesetzt, den DMA als Ergänzung des (einzelmarktbezogenen) Wettbewerbsrechts für die Problematik (marktübergreifender) digitaler Ökosysteme aufzufassen. Sie sprach sich deshalb dafür aus, den DMA näher als im ursprünglichen Entwurf der Europäischen Kommission vorgesehen an wettbewerbsrechtlichen Regelungskonzepten zu orientieren. Der DMA sollte klar auf digitale Ökosysteme ausgerichtet werden, da gerade die marktübergreifende Macht von Ökosystembetreibern mit dem derzeit bestehenden Wettbewerbsrecht schwer zu erfassen ist. Ebenso wie das bestehende Wettbewerbsrecht sollte der DMA allerdings flexibel ausgestaltet werden und Regulierungsausnahmen zulassen bei deutlichen Vorteilen für Verbraucherinnen und Verbraucher. Gerade wenn derartige Ausnahmen möglich wären, könnten im Gegenzug punktuelle Ausweitungen der Verbote erfolgen. Die Monopolkommission empfahl vor diesem Hintergrund, insbesondere sogenannte Selbstbevorzugungsstrategien in Ökosystemen noch umfassender als in dem Entwurf der Europäischen Kommission angelegt zu untersagen (vorbehaltlich einer Effizienzeinrede).Die europäischen Institutionen haben den Gesetzgebungsprozess zum DMA sehr zügig vorangetrieben und im März die Trilogverhandlungen abgeschlossen. Deshalb tritt der Gesetzgebungsakt wohl noch in diesem Jahr in Kraft. Diese Schnelligkeit wurde dadurch möglich, dass die Institutionen sich eng am ursprünglichen Kommissionsvorschlag für den DMA orientiert und von wesentlichen konzeptionellen Änderungen abgesehen haben. Die auch von anderer Seite unterstützten Verbesserungsvorschläge der Monopolkommission und anderer fanden vor diesem Hintergrund allenfalls begrenzt Berücksichtigung. Der DMA verfolgt in der nun beschlossenen Fassung somit weiterhin einen stärker regulatorischen und weniger wettbewerbsorientierten Ansatz, als ihn die Monopolkommission empfohlen hatte. Er definiert große Plattformbetreiber als Rechtsadressaten, basierend auf meist formalen Kriterien. Kein ausdrückliches Kriterium ist, dass diese Adressaten – sog. „Gatekeeper“ – ein digitales Ökosystem betreiben. Die Verhaltens- und Transparenzpflichten sind – in enger Anlehnung an die ursprünglichen Vorschläge – auf einzelne als regulierungsbedürftig identifizierte zentraler Plattformdienste bezogen und ebenfalls formal ausgestaltet. Der Ökosystemaspekt wird hier gleichwohl dadurch adressiert, dass die Pflichten parallel erfüllt werden müssen. Die Pflichten müssen zudem unabhängig von Auswirkungen des regulierten Verhaltens in Einzelmärkten erfüllt werden. Die starre gesetzliche Definition der Normadressaten und der diese treffenden Pflichten hat vor allem zur Folge, dass Behörden beides – anders als im Wettbewerbsrecht – nicht mehr einzelfallbezogen nachweisen müssen. In Fällen, in denen die Anwendung der gesetzlichen Definitionen zu einer überschießenden Regulierung führt, sieht der DMA zwar begrenzte Ausnahmen vor – anders als von der Monopolkommission empfohlen allerdings nicht in dem Sinne, dass ein Verhalten deshalb freigestellt werden kann, weil es mit überwiegenden Vorteilen für Verbraucherinnen und Verbraucher einhergeht.
Der DMA macht also verschiedene Kompromisse und lässt zum Teil tatsächlich auch erst auf den zweiten Blick erkennen, worum es regulatorisch geht. Feststeht, dass der DMA nicht wie das bestehende Wettbewerbsrecht erst ein Eingreifen nach der Feststellung eines Wettbewerbsverstoßes ermöglichen soll. Der DMA zielt vielmehr darauf ab, innerhalb einer schon geschwächten Markt- und Wirtschaftsstruktur weitere Verstöße von vornherein zu verhindern. Ob er dieses Ziel erreichen kann und mit welchen Kosten der neue Regelungsansatz einhergeht, wird sich mit der Zeit zeigen. Auffällig ist jedenfalls, dass der DMA nur begrenzte Regelungen enthält, um das Aufbrechen einer verfestigten Angebotsstruktur auf Einzelmärkten zu ermöglichen. Zu nennen sind in dieser Hinsicht die enthaltenen Verpflichtungen zur Förderung von Interoperabilität, zur Ermöglichung des Zugangs zu wettbewerbsrelevanten Daten und zur Mitnahme von Nutzerdaten zu den Diensten dritter Anbieter (sog. Datenportabilität). Auch bei einer Nichterfüllung von Pflichten sieht der DMA keine einzelmarktbezogenen regulatorischen Korrekturen vor. Abhilfemaßnahmen sind nämlich allein mit dem Ziel möglich, die Einhaltung der im DMA festgelegten Pflichten für die Zukunft zu erzwingen. Daher dürfte sich die Schaffung bestreitbarer Märkte im Kernbereich digitaler Plattformen (Betriebssysteme, Suchdienst, Werbemärkte, Handelsplattformen) als deutlich schwieriger erweisen als in vor- und nachgelagerten Märkten. Insofern passt der Vergleich zum Regulierungsrecht in den Netzwirtschaften, bei dem es primär um die Schaffung und Aufrechterhaltung von Wettbewerb in vor- und nachgelagerten Märkten ging und darauf in den resistenten Bereichen natürlicher Monopole (etwa im Eisenbahninfrastrukturbereich) auch beschränkt blieb. Allerdings ist das Missbrauchsrecht neben dem DMA weiterhin anwendbar und kann zur Wiederherstellung des Wettbewerbs eingesetzt werden, wenn dies erforderlich ist. Insofern verbleibt auch eine wichtige Reservezuständigkeit für die europäischen und nationalen Wettbewerbsbehörden.
Das leitet über zu einer letzten Besonderheit des DMA. Denn dort ist verfahrensrechtlich eine streng zentralisierte Durchsetzung der neuen Regeln vorgesehen. Die EU-Kommission soll die einzige Durchsetzungsinstanz des DMA sein. Den nationalen Behörden sollen im Rahmen des DMA lediglich Befugnisse zukommen, Voruntersuchungen einzuleiten und die Ergebnisse an die EU-Kommission weiterzuleiten, wenn sie einen Verstoß gegen das DMA vermuten. In Bezug auf private Schadenersatzklagen enthält der DMA überhaupt keine Regelungen. In diesem Zusammenhang wird sich erneut erst mit der Zeit zeigen, ob der DMA überzeugt. Zwar leuchtet die Zuständigkeitskonzentration bei der EU-Kommission intuitiv ein, wenn man bedenkt, dass die regulierten Unternehmen unions- oder sogar weltweit konzipierte Geschäftsmodelle verfolgen. Allerdings gibt es im Wettbewerbsrecht eine funktionierende Zuständigkeitsaufteilung und Zusammenarbeit zwischen der EU-Kommission und den Behörden in den Mitgliedstaaten. In Bezug auf private Schadenersatzklagen ist zu konstatieren, dass durch den DMA solche Klagen aufgrund des nationalen Rechts in den Mitgliedstaaten immerhin nicht ausgeschlossen werden. Hier bleibt also der deutsche Gesetzgeber gefordert, die gegebenenfalls nötigen Regelungen zu treffen.
Wie geht es jetzt auf der Zeitachse mit dem DMA weiter? Nach technischen Abstimmungsarbeiten sollen schon bis Juli 2022 Parlament und Rat den Text formal beschließen. Dann kann er im Oktober 2022 im Amtsblatt veröffentlicht werden und die kurze Frist für das Aktivieren der Vorschriften von sechs Monaten zu laufen beginnen. Die Europäische Kommission hat dann in 2023 mindestens zwei (höchsten sieben) Monate Zeit, um den Designationsprozess für die Gatekeeper zu durchlaufen. Anschließend haben die designierten Unternehmen nochmals sechs Monate Umsetzungszeit. Zum Jahreswechsel 2023/2024 können so die Vorschriften wirksam werden. Insofern wird es noch etwas dauern, bis die Wirkungen des Rechtsakts zu beobachten sein werden.
Gleichwohl ist der DMA ein ambitioniertes Gesetzgebungsprojekt, mit dem sich die Europäische Union an die Spitze weltweiter Regulierungsinitiativen im Bereich der Digitalwirtschaft setzt. Die EU ist hier jedenfalls einen Schritt weiter als die USA – als Sitzland der gewiss im Fokus stehenden GAFA-Unternehmen. Zwar laufen auch dort umfangreiche Gesetzgebungsprozesse mit äußerst ambitionierten Regelungen für die Plattformwirtschaft, die etwa mit Verboten für die Tätigkeit von GAFA-Unternehmen in benachbarten Märkten teils sogar noch strenger als der DMA sind. Ob diese Bestimmungen allerdings erfolgreich das Gesetzgebungsverfahren passieren werden, ist zurzeit völlig unklar. Auch bei den laufenden Kartellverfahren zeichnet sich der Beginn der Gerichtsverfahren erst 2023/2024 ab, so dass die Prozesse jenseits des Atlantiks eher verzögert laufen. Der DMA kann also im besten Falle Vorbildfunktion entfalten. Daneben bleibt in jedem Fall der Wettbewerbsschutz nach den hierzu bestehenden Regeln wichtig. Außerdem wird der nationale Gesetzgeber prüfen müssen, ob er spezielle Regeln zur privatrechtlichen Durchsetzung der Pflichten im DMA vorsehen möchte. Die weitere Anwendung des § 19a GWB nach Inkrafttreten des DMA ist dagegen nur noch begrenzt möglich. Das ist im Sinne einer Vermeidung der Fragmentierung des Marktes auch grundsätzlich zu begrüßen. Fraglich ist aber, ob das volle Potenzial der Einbindung nationaler Kartellbehörden in den Vollzug des DMA ausgeschöpft worden ist. So wird eine große Herausforderung nicht nur die Informationsasymmetrie zwischen Regulatoren und regulierten Unternehmen bleiben, sondern auch die asymmetrische Ausstattung mit Ressourcen. Daher ist jede kompetente Unterstützung der Europäischen Kommission zu begrüßen. Auch institutionell wird sich hier also noch Einiges einschwingen müssen. Ob der DMA den erhofften Beitrag zur Förderung der Bestreitbarkeit digitaler Märkte und zur Fairness auf diesen Märkten in der EU zu leisten vermag, lässt sich noch nicht abschätzen. Im weltweiten Wettbewerb um effektive Regeln zur Sicherung offener digitaler Märkte ist der DMA jedenfalls ein ebenso innovativer wie ambitionierter Vorstoß.
• Der Autor ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Immobilienrecht, Infrastrukturrecht und Informationsrecht an der Universität Regensburg und Vorsitzender der Monopolkommission.