CHB_RSW_Logo_mit_Welle_trans
jaheader_neu

Editorial Heft 3/2022

Von Prof. Dr. Elisa Hoven | Nov 30, 2022
Im 21. Jahrhundert hat sich der gesellschaftliche Meinungsaustausch zu einem großen Teil in die digitale Sphäre verlagert. Polarisierende Themen wie Kriminalität, Migration, Klimawandeln oder Geschlechtergerechtigkeit werden in den sozialen Medien verhandelt. Dabei verändern physische Distanz und Anonymität die Gesprächskultur. Laut einer im Rahmen des Leipziger Forschungsprojekts „Digitaler Hass“ durchgeführten repräsentativen Bevölkerungsbefragung beobachten 79 Prozent der Nutzer, dass Kommentare im Internet zunehmend aggressiv werden1.  18 Prozent der Befragten haben selbst bereits digitalen Hass erlebt; bei den 16-30 jährigen sind es über 30 Prozent.
Für die Betroffenen stellen beleidigende oder bedrohliche Äußerungen im Internet eine besonders intensive Rechtsverletzung dar. Sie sind für das persönliche, familiäre und auch berufliche Umfeld einsehbar und können oft nur mit erheblichem Aufwand gelöscht werden. Herabwürdigungen in den sozialen Medien können das Bild des Betroffenen in der Öffentlichkeit prägen, nicht selten bleibt "etwas hängen". Als gefährlich wird digitaler Hass dann wahrgenommen, wenn er mit einer Veröffentlichung personenbezogener Daten (dem sogenannten "Doxing") verbunden wird. Dass die Grenzen zwischen virtueller und analoger Welt fließend sein können, zeigen Studien, die einen Zusammenhang zwischen Hasskommentaren und realen physischen Übergriffen nahelegen2
Hass im Netz ist nicht nur für die Betroffenen ein Problem, sondern stellt auch eine Gefahr für den freien gesellschaftlichen Meinungsaustausch dar. In der oben genannten Studie gaben 42 Prozent der Befragten an, aus Angst vor digitalem Hass schon einmal einen Beitrag nicht gepostet oder ihn bewusst vorsichtiger formuliert zu haben3.  Zu ähnlichen Ergebnissen kam auch eine von Richter et al. durchgeführte Untersuchung; 54 Prozent der Teilnehmenden stimmten der Aussage zu, dass sie sich aus Sorge vor digitalem Hass mit der Äußerung politischer Ansichten im Internet zurückzuhalten würden4.  Diese "Silencing"-Effekte werden teilweise bewusst genutzt. Betroffene berichten von orchestrierten Aktionen, mit denen sie gezielt eingeschüchtert werden sollten5.  Das bleibt nicht ohne Folgen: In einer Studie zu digitalen und analogen Gewalterfahrungen erklärten 10 Prozent der befragten Kommunalpolitiker "ernsthaft (zu erwägen), wegen der Gewalterfahrungen das Mandat niederzulegen."6 
Die Digitalisierung hat damit nicht nur weitere Räume für die Begehung von Straftaten eröffnet, sondern auch neue Bedrohungen geschaffen. Diese Entwicklung bildet sich mittlerweile auch in der Rechtsprechung ab. 
Die Auslegung des zentralen Tatbestandes der Beleidigung in § 185 StGB war bislang von einem Dualismus zwischen Ehrschutz und Meinungsfreiheit geprägt. Während das Grundrecht der Meinungsäußerung als "eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt" gilt, das "(f)ür eine freiheitlichdemokratische Staatsordnung (...) schlechthin konstituierend" sei,7 mutet die "Ehre" schon sprachlich antiquiert an. Das BVerfG betonte, dass bei Beiträgen zur öffentlichen Meinungsbildung "eine Vermutung zugunsten der Freiheit der Rede" sprechen müsse;8  auch polemische Kritik sei hinzunehmen, da anderenfalls eine Lähmung des Meinungsbildungsprozesses drohe9.  Diese Rechtsprechung, die nicht selten als eine weitgehende "Abschaffung des strafrechtlichen Ehrenschutzes im Bereich von Meinungs- und Pressefreiheit"10  kritisiert wurde, mag den Boden bereitet haben für Fehlentscheidungen wie im "Fall Renate Künast". Das Landgericht Berlin war hier davon ausgegangen, dass etwa der Facebookkommentar "Schlampe" keine "primär auf eine Diffamierung der Person der Antragstellerin" gerichtete strafbare Beleidigung, sondern eine zulässige "Auseinandersetzung in der Sache"11  sei. 
Die öffentliche Empörung über die Entscheidung mag ein Anlass für das BVerfG gewesen sein, in seinen "Mai-Beschlüssen" von 2020 einige Grundsätze zur Auslegung von § 185 StGB festzuhalten. Dabei nimmt das Gericht gerade auch die digitale Kommunikation in den Blick. Es bezieht in die Abwägung ein, dass die ehrbeeinträchtigende Wirkung einer Äußerung verstärkt werde, wenn sie "besonders sichtbar in einem der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglichen Medium", wie dem Internet, getätigt werde12.  An Äußerungen im Internet sind also keine großzügigeren Maßstäbe anzulegen. Im Gegenteil: Bei schriftlichen Äußerungen könne ein höheres Maß an Umsicht und Zurückhaltung erwartet werden, dies gelte "auch für textliche Äußerungen in den ,sozialen Netzwerken' im Internet"13.   Außerdem stellte das BVerfG klar, dass Machtkritik in einer Demokratie zwar einen wichtigen Wert habe, aber auch Politiker und Politikerinnen keine "auf die Person abzielend(e), insbesondere öffentlich(e) Verächtlichmachung oder Hetze" hinnehmen müssen.14 
Interessant ist aber vor allem, dass die Kammer der Anwendung von § 185 StGB ein neues Schutzgutverständnis zugrunde legt. Ein Schutz der Persönlichkeitsrechte von Amtsträgern und Politikern liege "unter den Bedingungen der Verbreitung von Informationen durch ,soziale Netzwerke' im Internet [...] über die Bedeutung für die jeweils Betroffenen hinaus auch im öffentlichen Interesse, was das Gewicht dieser Rechte in der Abwägung verstärken kann. Denn eine Bereitschaft zur Mitwirkung in Staat und Gesellschaft kann nur erwartet werden, wenn für diejenigen, die sich engagieren und öffentlich einbringen, ein hinreichender Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte gewährleistet ist"15.  Gleiches muss für die weiteren Folgen von digitalem Hass und insbesondere die beobachteten "Silencing"-Effekte gelten. Der Meinungsfreiheit des Äußernden steht nicht mehr nur der Ehrschutz des Adressaten gegenüber, sondern auch der Schutz der Meinungsfreiheit im öffentlichen Diskurs. Angesichts der wachsenden Sensibilität für die Gefahren durch digitalen Hass ist zu erwarten, dass Gerichte künftig häufiger zu Lasten des Täters abwägen und wegen Beleidigung verurteilen werden.16
Auch der Gesetzgeber hat auf das Phänomen des digitalen Hasses reagiert und in dieser Legislaturperiode eine Vielzahl von Reformen zur besseren strafrechtlichen Ahndung der Taten beschlossen. Für öffentlich begangene Beleidigungen wurde die Höchststrafe von einem auf zwei Jahre Freiheitsstrafe angehoben. Zugleich werden Taten gegen Politiker und Politikerinnen strenger geahndet. Beleidigungen (und nicht länger nur die üble Nachrede oder Verleumdung), die geeignet sind, das öffentliche Wirken der Person erheblich zu erschweren, können nach § 188 Abs. 1 StGB mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren sanktioniert werden. Die Tatbestände der Bedrohung, der Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten und der Belohnung und Billigung von Straftaten wurden erheblich ausgeweitet, um bislang strafloses Verhalten - etwa die Drohung mit einem Vergehen (bislang musste es sich um ein Verbrechen handeln) oder die Billigung künftiger Straftaten - erfassen zu können. Neu eingeführt hat der Gesetzgeber vor wenigen Wochen den Tatbestand des "Gefährdenden Verbreitens personenbezogener Daten" in § 126a StGB, der das Doxing ebenso erfasst wie die Veröffentlichung von Namen auf sogenannten "Feindeslisten"17.  Mit demselben Gesetz wurde die "Verhetzende Beleidigung" (§ 192a StGB) unter Strafe gestellt, die insbesondere dann greift, wenn volksverhetzende Inhalte nicht öffentlich, sondern in Privatnachrichten an Betroffene verschickt werden.
Die Digitalisierung stellt das Strafrecht vor immer neue Herausforderungen. Das ist wenig verwunderlich. Das Strafgesetzbuch aus dem Jahr 1871 konnte die Entwicklungen digitaler Kommunikation nicht voraussehen. Da Straftatbestände dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG entsprechen müssen und sich im Strafrecht täterbelastende Analogien verbieten, kommt der Gesetzgeber an einer Präzisierung und Fortschreibung von Strafnormen nicht vorbei. Auch wenn jede Erweiterung des Strafrechts kritisch betrachtet werden sollte - ein modernes Strafgesetzbuch muss neuen, digitalen Kriminalitätsphänomenen angemessen Rechnung tragen.

Fußnoten:
1) Forschungsgruppe g/d/p in Kooperation mit der Universität Leipzig, Hate Speech - Ergebnis-se einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage, 2020, online abrufbar unter https://www.jura.uni-leipzig.de/fileadmin/Fakult%C3%A4t_Juristen/Professuren/Hoven/gdp_Ergebnisse_HateSpeech_ Kurzbericht.pdf (zuletzt abgerufen am 19.7.2021).
2) Williams et al. British Journal of Criminology 2020, 93; Fulper et al., Misogynistic language on twitter and sexual violence, Proceedings of the ACM Web Science Workshop on ChASM, 2014. Allerdings konnten hier nur Korrelationen und keine Kausalitäten nachgewiesen werden.
3) Forschungsgruppe g/d/p in Kooperation mit der Universität Leipzig, Hate Speech - Ergebnis-se einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage, 2020, online abrufbar unter https://www.jura.uni-leipzig.de/fileadmin/Fakult%C3%A4t_Juristen/Professuren/Hoven/gdp_Ergebnisse_HateSpeech_ Kurzbericht.pdf (zuletzt abgerufen am 19.7.2021).
4) Richter/Geschke/Klaßen ZJJ 2020, 148 (150).
5) Heuser/Hoven/Witting, Eine Interviewstudie zu Motiven und Erleben von digitalem Hass (im Erscheinen). Vgl. auch Kreißel et al., Hass auf Knopfdruck, 2018, online abrufbar unter https://www.isdglobal.org/wp-content/uploads/2018/07/ISD_Ich_Bin_Hier_2.pdf (zuletzt abge-rufen am 19.7.2021). 
6) Alin/Bukow/Faus/John/Jurrat, Beleidigt_und_bedroht - Arbeitsbedingungen und Gewalter-fahrungen von Ratsmitgliedern in Deutschland, Schriften zur Demokratie Band 59, hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung, 51.
7) BVerfG NJW 1958, 257 (258).
8) BVerfG NJW 1995, 3303 (3305).
9) BVerfG NJW 1991, 95 (96).
10) Krey JR 1995, 221 (224).
11) LG Berlin MMR 2019, 754 (756).
12) BVerfG NJW 2020, 2622 (2627); 2020, 2631 (2634).
13) BVerfG NJW 2020, 2622 (2626 f.); 2020, 2631 (2634).
14) BVerfG NJW 2020, 2622 (2626); 2020, 2631 (2634).
15) BVerfG NJW 2020, 2622 (2626); 2020, 2631 (2634).
16) Hierzu ausführlich Hoven/Witting, Das Beleidigungsunrecht im digitalen Zeitaltern, NJW 2021 (im Erscheinen).
17) BT-Drs. 19/28678.
Menü