Professor Dr. Thomas Petri ist der Bayerische Landesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit sowie Mitglied im Wissenschaftsbeirat der ZD.
Lars C. Kroemer, Drittwirkung der Grundrechte, Die Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft als staatstheoretische Bedingung der Drittwirkungsproblematik, Tübingen (Mohr Siebeck) 2024, ISBN 978-3-16-162661-6, 74 EUR
ZD-Aktuell 2024, 94514 Gem. Art. 1 Abs. 3 GG binden die Grundrechte die Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. Schon früh folgerte die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung hieraus, dass die Grundrechte Private nicht unmittelbar binde. Zwischen Privaten entfalte sich der Rechtsgehalt der Grundrechte vielmehr mittelbar, indem die Auslegung des Privatrechts der Verfassung zu folgen habe. In diesem Sinne verkörperten die Grundrechte eine objektive Werteordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelte (grundlegend zB BVerfGE 7, 198). In zahlreichen Entscheidungen hat das BVerfG die Maßstäbe dieser mittelbaren Drittwirkung von Grundrechten in der Sache bestätigt und weiterentwickelt (vgl. zB BVerfGE 152, 152 (185 ff.)). Von Beginn an und aus unterschiedlichen Gründen haben Teile der Fachliteratur das Modell der mittelbaren Drittwirkung von Grundrechten kritisiert (vgl. zB Erhard Denninger, Staatsrecht 1 (1973), S. 123: „nicht mehr als eine in liberalistischer Tradition befangene Verlegenheitsformel“; vgl. auch die ausführliche Auseinandersetzung mit der Lüth-Entscheidung von Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, insbesondere S. 27 ff.). Diese Kritik ist in jüngerer Zeit vor dem Hintergrund steigender Bedrohungen grundrechtlicher Freiheiten durch Private lauter geworden.
In seiner nun veröffentlichten, äußerst lesenswerten Dissertation greift Kroemer diese Kritik am Beispiel des „Metaprozesses“ der Digitalisierung auf. Hierunter versteht er eine langfristige Entwicklung, die nicht nur das tägliche Leben, sondern auch die Gesellschaft als Gesamtheit betreffen und der grundsätzlich jedermann ausgesetzt ist (S. 8). In seiner dogmatischen und staatstheoretischen Grundlegung arbeitet er zunächst heraus, dass die Figur der mittelbaren Drittwirkung einem traditionellen Grundrechtsverständnis entspricht, das scharf zwischen Staat und Gesellschaft unterscheide (Kroemer spricht insoweit etwas missverständlich von einem Staat-Gesellschaft-Dualismus, vgl. S. 26 ff.). Danach besteht die Hauptfunktion der Grundrechte in der Abwehr allein staatlicher Freiheitsbeschränkungen; hieran ändere auch die Erweiterung der Grundrechtsfunktionen um zusätzliche Dimensionen nichts. Eine wesentliche Begründung für diese Fokussierung sei, dass der Staat anders als Private im Verhältnis zum Einzelnen typischerweise einseitig mit Befehl und Zwang handeln könne. Die Grundrechte dienten als ein Regulativ dieser Einseitigkeit; zugleich käme hierdurch das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip zum Ausdruck, wonach die Freiheit des Einzelnen prinzipiell unbegrenzt sei, während die Befugnis des Staats zu Eingriffen in die Freiheitssphäre prinzipiell begrenzt sei (S. 17 f.). Kroemer hält dieses Modell in Reinform für nicht mehr zeitgemäß, weil es dem tatsächlichen Wandel des Staat-Gesellschaft-Dualismus nicht mehr gerecht werde (vgl. S. 36 ff.). Die These vom souveränen Staat als Letztentscheidungsinstanz in gesellschaftlichen Konfliktlagen vernachlässige den Umstand, dass im Bürger-Bürger-Verhältnis zahlreiche einseitige Rechtsverhältnisse entstanden seien, die den Ordnungsprinzipien der Gesellschaft widersprächen (S. 51 ff.). Denn bestimmte private Akteure verfügten zunehmend über private Macht und könnten so ihren Willen in Privatrechtsverhältnissen einseitig auch gegen Widerstreben anderer durchsetzen. Zugleich veränderten sich die Ordnungskräfte des Staats. Beide Befunde untermauert Kroemer mit zahlreichen Beispielen (vgl. S. 58 ff.), unter anderem mit Aspekten der Globalisierung und Digitalisierung. Private Akteure, die anderen Privaten mitunter in einer Weise gegenübertreten, die typische Kriterien hoheitlichen Handelns aufweisen, bezeichnet er als „intermediäre Gewalten“ (genaue Definition: „Intermediäre Gewalten“ bezeichneten Akteure, die zwar als Private formal der Ebene der Gesellschaft zugeordnet werden könnten, jedoch aufgrund bestimmter Merkmale den Ordnungsprinzipien der Privatrechtsgesellschaft widersprächen, S. 90). Soweit sie in staatsähnlicher Weise grundrechtliche Freiheiten bedrohten, sollten intermediäre Gewalten einer unmittelbaren Grundrechtsbindung unterliegen; zugleich ermögliche der Typus (vgl. hierzu S. 105 ff.) der intermediären Gewalt ein Abgrenzungskriterium zu anderen Privaten. Typisch sei etwa, dass Intermediäre Gewalten als juristische Personen (S. 114-116) Leistungen erbringen, die den Freiheitsgebrauch erst ermöglichen (zB Dienstleistungen der Daseinsvorsorge, S. 108-110), dass sie entweder marktbeherrschend und / oder systemrelevant sind (S. 110-112, mit dem Beispiel großer Digitalunternehmen) und dass sie schließlich als ordnungsgebende Akteure in der Gesellschaft auftreten (z.B. durch Verwenden von Allgemeinen Geschäftsbedingungen oder Ausüben des arbeitsrechtlichen Weisungsrechts, vgl. S. 112-114).
Kroemer schwebt allerdings nicht vor, die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte generell abzuschaffen. Sie soll für Privatrechtsverhältnisse fortbestehen, welche die Prämisse der Gleichordnung Privater erfüllen (S. 90 f.). Das soll auch für intermediäre Gewalten gelten. Lediglich soweit sie die Prämisse der Gleichordnung Privater nicht erfüllen, sollen intermediäre Gewalten einer unmittelbaren Grundrechtsbindung unterworfen werden. Nur so könne ein unzureichender Schutz vor Subordinationen im Privatrechtsverhältnis vermieden werden, der bei der mittelbaren Drittwirkung entstehe. Ihre Mechanismen seien durchaus geeignet, Konflikte auf Augenhöhe auszugleichen. In Bezug auf die Fallgruppe der intermediären Gewalten hingegen würden die Voraussetzungen für die Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen Subordination und Gleichordnung nicht mehr vorliegen (vgl. S. 132-133). Wie angedeutet soll hier eine unmittelbare Grundrechtsbindung der intermediären Gewalten helfen. Grundrechtsdogmatisch begründet Kroemer diesen Ansatz nicht mit Art. 1 Abs. 3 GG, sondern mit der „subjektiv-rechtlichen Eigenschaft der Grundrechte als solche, insbesondere in ihrer abwehrrechtlichen Dimension“ (S. 139 unten). Allerdings soll die unmittelbare Grundrechtsbindung grundsätzlich anders ausgestaltet sein wie bei hoheitlichen Grundrechtseingriffen. Als Eingriff versteht Kroemer solche Handlungen, die ein grundrechtlich geschütztes Verhalten erschweren oder unmöglich machen. So wäre eine Datenverarbeitung durch Intermediäre Gewalten bereits ein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, die Löschung von Beiträgen ein Eingriff in die Meinungsfreiheit (S. 149 f.). Die Pflicht zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen resultiere nicht erst mediatisiert aus einer staatlichen Entscheidung, sondern werde den Intermediären Gewalten selbst auferlegt (S. 150). Falls man den Grundrechtseingriff bejahte, ergäben sich deutlich weitergehende Unterschiede bei der Eingriffsrechtfertigung. So sollten Grundrechtseinschränkungen durch intermediäre Gewalten nicht durch oder aufgrund eines Gesetzes erfolgen müssen, weil sie private Rechtssubjekte seien. Allenfalls könne man als verfassungsimmanente Grundrechtsschranke die eigene Grundrechtsbetätigung der eingreifenden intermediären Gewalt heranziehen. Da Kroemer auch weitere formale Rechtfertigungsvoraussetzungen ausklammert, beschränkt sich seine Prüfung der Rechtfertigung von Eingriffen durch intermediäre Gewalten letztlich auf eine modifizierte Verhältnismäßigkeitsprüfung. Gleichwohl erhofft sich Kroemer hierdurch einen verbesserten Grundrechtsschutz, weil die Grundrechte in Drittwirkungskonstellationen nur ein Mindestmaß an Schutz gewährleisteten, unmittelbare Drittwirkung hingegen eine strengere Grundrechtskontrolle und die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ermögliche (so sinngemäß die Zusammenfassung auf S. 177).
Kroemer ist darin zuzustimmen, dass Grundrechte in ihrer Funktion nach Antworten des Rechtsstaats auf tatsächliche Freiheitsbeschränkungen sind. In weiten Teilen sehr überzeugend begründet Kroemer die Notwendigkeit eines effektiven Grundrechtsschutzes gegenüber Intermediären Gewalten, die er auch begrifflich konturiert. Allerdings: Aus dogmatischer Sicht ist es fragwürdig, die unmittelbare Grundrechtsbindung ohne eine konkrete Anbindung am Verfassungstext auf Private (intermediäre Gewalten sind qua Definition stets Private) zu erstrecken. Zudem stellt sich die Frage, ob sein Ansatz einer unmittelbaren Grundrechtsbindung in tatsächlicher Hinsicht eine Verbesserung des Grundrechtsschutzes gegenüber dem vom BVerfG weiterentwickelten Konzept der mittelbaren Grundrechtswirkung darstellt. Wie dargestellt ist Kroemer gezwungen, das im Bürger-Staat-Verhältnis bewährte Schema der Grundrechtsprüfung zu entkernen, damit er sein Konzept der unmittelbaren Grundrechtsbindung auf intermediäre Gewalten (also Private) erstrecken kann. Damit beschränkt sich die von ihm postulierte unmittelbare Drittwirkung insoweit auf eine Abwägung der widerstreitenden Grundrechte der eingreifenden intermediären Gewalt und der grundrechtsbeeinträchtigten Privaten unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten. Kroemer muss sich die Frage gefallen lassen, ob eine solche Prüfung tatsächlich einen Mehrwert gegenüber der mittelbaren Drittwirkung erzeugt, die immerhin den normativen Ansatzpunkt der Privatrechtsordnung als Anker nutzen kann. Ungeachtet dessen: Kroemer deckt mit seiner Arbeit einige erhebliche Probleme der mittelbaren Drittwirkung von Grundrechten auf und entwickelt hierzu ein schlüssiges Lösungskonzept. Eine gute Dissertation, die der Rezensent mit steigendem Vergnügen durchgelesen hat und zur Lektüre empfehlen kann.