Dr. Eugen Ehmann ist Regierungspräsident von Unterfranken sowie Mitglied im Wissenschaftsbeirat der ZD.
Odey, Hardan, Extraterritorialität und Unionsrecht, Die extraterritoriale
Reichweite des Unionsrecht am Beispiel der Anwendung des europäischen Kartell-
und Datenschutzrechts in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs,
Berlin (Duncker & Humblot) 2024, ISBN 978-3-428-19102-4, 109,90 EUR
ZD-Aktuell 2024, 04509 Dass „die Europäische Union mit dem frühen Erlass der Datenschutzrichtlinie gegenwärtig im weltweiten Vergleich eine dominante Stellung eingenommen hat“ (S. 219), ja dass man sogar von einem „Rockstar-Status des Europäischen Datenschutzrechts“ sprechen könne (S. 219; S. 264) - derartige positive Bewertungen des EU-Datenschutzrechts findet man gerade in der deutschsprachigen Literatur ausgesprochen selten. Wer aus ihnen indessen den Schluss ziehen wollte, der Autor der hier kurz zu besprechenden Bielefelder Dissertation sehe die Aktivitäten der EU auf eine unreflektierte Weise durch eine Art rosarote Brille, läge gründlich daneben.
Denn im unmittelbaren Kontext der gerade wiedergegebenen Zitate findet sich auch diese Aussage: „die Europäische Union ist mittlerweile auch in der Lage, fremden Staaten europäische Datenschutzvorstellungen zu diktieren ...“ (S. 219). Und noch mehr zugespitzt wirkt im Zusammenhang mit der Erörterung des Rechts auf Vergessenwerden die Warnung, dieses Recht könne „zu einer globalen Zensur führen“ (S. 261), sollten europäische Gerichte und Stellen die von ihnen vorgenommenen Abwägungsentscheidungen ohne Weiteres als weltweit maßgeblich ansehen.
Solche Überlegungen führen zum Kernanliegen der vorliegenden Dissertation. Es geht darum, inwieweit EU-Recht extraterritorial, also außerhalb des Hoheitsgebiet der EU (zur Problematik dieses Begriffs siehe etwa S. 57), Wirkungen entfaltet und ob es geboten sein könnte, eine derartige Wirkung zu beschränken. Als rechtliche Referenzgebiete zur Erörterung dieser Fragen zieht der Autor das Kartellrecht und das Datenschutzrecht heran. Er sieht beide zutreffend als eine der wenigen Rechtsbereiche des Unionsrechts, die genuin europarechtlicher Natur sind und die deshalb in besonderem Maße Werte der EU reflektieren (S. 36).
Die Darstellung gliedert sich in vier große Teile. § 1 stellt die völkerrechtlichen Grundlagen der Jurisdiktionslehre dar. § 2 behandelt die Extraterritorialität im europäischen Kartellrecht und § 3 dasselbe Sujet im europäischen Datenschutzrecht. § 4 bietet unter Einbeziehung beider Rechtsgebiete Überlegungen zur Selbstbeschränkung bei der extraterritorialen Anwendung des Unionsrechts. Die Reflexionen gehen durchweg sehr in die Tiefe und beziehen erfreulicherweise auch internationale Literatur umfassend mit ein.
Dass die deutsche Kommentarliteratur zum Datenschutzrecht dabei recht an den Rand gerät, ist bei einer in erster Linie völkerrechtlich ausgerichteten Darstellung hinnehmbar. Jedenfalls die wichtige Aussage, dass die Erfahrungen der Nazi-Zeit ein zentrales Motiv für die Erarbeitung von Datenschutzregelungen im kontinentaleuropäischen Raum gewesen seien (S. 216 f.), hätte aber zumindest auch durch nationale deutsche Literatur unterlegt werden sollen. Die Faktenbasis des zu Recht benannten Missbrauchs von Einwohnerregistern ist etwa geschildert bei Aly/Roth, Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus, 3. Aufl. 2019.
Angesichts der beständigen Zunahme des grenzüberschreitenden Verkehrs personenbezogener Daten kann die Abhandlung mit einer Fülle praxisrelevanter Beispiele aufwarten. Hierzu gehört etwa die Darstellung des SWIFT-Konflikts (S. 323 f.), der trotz seiner paradigmatischen Rolle für ähnliche denkbar Konflikte in der neueren Datenschutzliteratur kaum noch erwähnt wird. Den U.S. Cloud Act behandelt die Arbeit (S. 325 f.) als ein solches möglicherweise aufkommendes Konfliktszenario. Dass viele der angestellten Überlegungen auch im Rahmen der jüngsten KI-Gesetzgebung der EU eine enorme praktische Bedeutung erlangen dürften, ist nicht weiter ausgeführt, jedoch mit Händen zu greifen.
Der begrenzte Raum erlaubt es nicht, in eine Auseinandersetzung mit Einzelthesen der Arbeit einzutreten. Doch einige Aspekte, die Beachtung auch im „Alltagsgeschäft“ des Datenschutzes verdienen würden, seien zumindest benannt. Zu Recht hebt der Autor hervor (so etwa auf S. 223), dass die EuGH-Rechtsprechung zur Datenschutzrichtlinie, der Vorläuferin der DS-GVO, nach wie vor intensiv zu berücksichtigen ist. Dies entspricht der ständigen Praxis des EuGH (s. etwa erst jüngst EuGH ZD 2024, 328 mAnm Halim/Marosi Rn. 33). Die enorme internationale Ausstrahlung des EU-Datenschutzrechts ist mit zahlreichen Beispielen belegt, so etwa einer Entscheidung des Supreme Court of British Columbia, die auf das Google Spain-Urteil des EuGH Bezug nimmt (S. 235), ferner mit entsprechenden Judikaten aus Japan (S. 264) und Indien (S. 275). Dass die in der Regel nicht mögliche extraterritoriale Durchsetzung von EO-Recht dessen extraterritorialer Wirksamkeit kaum beeinträchtigt, ist überzeugend begründet (S. 343 f.).
Insgesamt liegt eine trotz der Komplexität der Thematik sehr gut lesbare Arbeit vor, die ihren Wert längerfristig behalten wird. Ihren Weg in die Kommentierungen vor allem zu Art. 3 DS-GVO dürfte sie sehr rasch finden.