Marie-Theres Tinnefeld ist Professorin für Datenschutz und Wirtschaftsrecht an der Hochschule München und Mitglied des Wissenschaftsbeirats der ZD.
ZD 2024, 421 Das Zeitalter der Aufklärung, das etwa um die Mitte des 17. Jahrhunderts einsetzte und an der Wende des 19. Jahrhunderts zu Ende ging, ist dank digitaler Räume informationell präsent. Denn die Aufklärung ist auch der Startschuss für die Meinungs- und Pressefreiheit, die im 21. Jahrhundert in Verbindung mit dem Datenschutz und der Informationsfreiheit zum Wertekanon der EU gehört.
So stieß der Neuhistoriker Wolfgang Schmale in seinem neuesten Buch „#ImmanuelKant. Kosmopolit digital im postkolonialen Zeitalter“ (2024) iRd systematischen Darstellung digitaler Identitäten am Beispiel von Aufklärern wie etwa Hume, Voltaire oder Leibniz auf den eigenartigen Befund, dass zwar weltweit der Philosoph Immanuel Kant die größte Anerkennung als Aufklärer erfährt, dass aber die digitale Recherche nach ihm in Deutschland überwiegend unter dem Stichwort „Rassist“ erfolgt. Was eben darauf hinweist, dass man ihn möglicherweise als einen Rassisten ansieht.
Der Blick auf rassistische Ausgrenzungen bis hin zur Intoleranz gegenüber anderen, namentlich den Juden, ist bei Kant unvermeidlich. Dies sollte in der digitalen Öffentlichkeit zwar als ein heftiger Stolperstein in seiner Biografie betrachtet werden. Aber die positive Sicht auf die Bedeutung des Königsberger Philosophen, der im Geist der Aufklärung den Begriff der unantastbaren menschlichen Würde ins Zentrum der Persönlichkeitsrechte rückte und 1795 das zeitlose Werk „Zum Ewigen Frieden“ schuf, sollte dadurch nicht verstellt werden.
Kant führte aus, dass der Frieden ohne die Förderung internationaler Beziehungen, ohne die Kooperation und das gegenseitige Verständnis der Nationen in Europa und der Welt nicht gelingen kann. Hier ist die Rede von einer internationalen Arbeit an dem, was Ralf Dahrendorf einmal als „sense of belonging“ bezeichnet hat. Diese Handlungsmaxime ist angesichts des Kriegs in Nahost und der Ukraine, insbesondere auch im Kontext der kommunikativen Grund- und Menschenrechte wie der Meinungs- und Pressefreiheit, für die schwierigen und komplexen Vorgänge von Friedensverhandlungen wichtiger denn je.
Kants Achtung der menschlichen Würde
Was weiße Menschen über „interrassische Aktivitäten“ und Feindseligkeiten wissen sollten, finden sie aktuell in dem Buch der Pulitzer-Preisträgerin Natasha Trethewey „Memorial Drive, Erinnerungen einer Tochter“ (2024). Das Buch macht Diskriminierungen deutlich, die über Hautfarben und Ethnien hinweg heute mit radikalen Meinungen, rechtspopulistischen Verhärtungen, Hass und tätlichen Angriffen etwa auf engagierte Politikerinnen und Politiker zunehmen. Der dabei auftretende Sprachverfall erinnert an die grauenvolle Sprache des Dritten Reichs, wie sie Viktor Klemperer in seinem „LTI - Notizbuch eines Philologen“ (1947) beschrieben hat.
Die hässlichen rassistischen Aussagen, die Kant in seiner Schrift „Über die verschiedenen Racen der Menschen“ (1775) gemacht hat, finden sich in seinen späteren Schriften nicht wieder. Der Philosoph hat seine geänderte Position in der „Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse“ 1785 selbst erläutert: „Die Klasse der Weißen ist nicht als besondere Art in der Menschengattung von der der Schwarzen unterschieden; und es gibt gar keine verschiedenen Arten von Menschen.“
Kant begreift den Menschen als Zweck an sich, als einen Menschen, der Würde und somit Persönlichkeitsrechte hat. Nach seiner Schrift von 1784 „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ bedeutet Würde, dass der Mensch sich des eigenen Verstands bedienen und sich so aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit befreien kann. In seiner Würde liegen seine Autonomie wie seine Fähigkeit begründet, eigenständig zu denken und zu handeln. Das Würde-Bekenntnis der Generalversammlung der Vereinten Nationen von 1948 knüpft an diese Idee der Aufklärung an: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen“ (Art. 1 AEMR).
Kein Mensch hat nach Kant das Recht zu gehorchen. Die Bedeutung dieser Menschenpflicht erörtert der jüdische Autor und Gewinner des Leibniz-Buchpreises von 1924 Omri Boehm in seinem Buch „Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität“ (2023) am Beispiel der biblischen Geschichte, in deren ursprünglicher Fassung Abraham „Gott“ widerspricht und statt des Sohns Isaak aus eigenem Entschluss einen Widder opfert (I. Mose 22, 1.) Boehm befasst sich hier mit dem Erbe der biblischen Propheten, wonach ethisches Verhalten dem (unreflektierten) Gehorsam übergeordnet ist. Was sind Widerstand und Zivilcourage eigentlich anderes als die Verwirklichung dieses biblischen Gedankens? Und dieses Verhalten setzt Aufklärung voraus, eine Bereitschaft zur Information etwa über die gefährliche israelische Siedlungspolitik, den anlasslosen russischen Krieg in der Ukraine oder Proteste im angemessenen Kampf zum Schutz vor Klimakatastrophen.
Die EU gründet auf der Achtung der Menschenwürde. Dies spiegelt sich im Vertrag über die Europäische Union (Art. 2 S. 1 EUV), der auf die Grundrechtecharta (Art. 1 GRCh) wie auch das Grundgesetz (Art. 1 Abs. 1 GG) verweist. In seinem bahnbrechenden Volkszählungsurteil hat das BVerfG iSd Aufklärers Kant ausgeführt: „Im Mittelpunkt der grundgesetzlichen Ordnung stehen Wert und Würde der Person, die in freier Selbstbestimmung als Glied einer freien Gesellschaft wirkt“ (BVerfGE 65, 1 (41)). Der Orientierung am Individuum als dem autonomen Willens- und Handlungssubjekt entspricht die Einrichtung eines Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung bzw. auf Datenschutz (Art. 2 Abs. 1 GG iVm Art. 1 Abs. 1 GG) durch das Verfassungsgericht.
Die Achtung vor dem Menschen ist verletzt, wenn sie in der politischen Gestaltung von Recht und Staat nicht respektiert wird, sodass die Menschen in Bezug auf Hautfarbe, Herkunft, sexuelle Orientierung, Religion und Weltanschauung oder politische Ansichten nicht frei und (rechtlich) gleich behandelt, sondern nach Klischees oder Vorurteilen etwa als Juden, Palästinenser, Sinti und Roma (uU KI-gesteuert) diskriminiert werden.
Kants Achtung menschlicher Verschiedenheit
Das Gefährliche an zunehmend rechtsextremer Politik ist, dass sie eine ethnische und kulturelle Homogenität durch Ab- und Ausgrenzungen von anderen mit Hass und Gewalt betreibt. Schon Kant hat deutlich gemacht, dass es auf Vernunftgründe und nicht auf Profiling, Blackfacing oder Ranking-Algorithmen ankommen kann, die zB auch über den Zugang zu einer Universität und damit über Bildungschancen entscheiden. Das Bekenntnis zur Menschenwürde bedingt, dass Menschen auf der Grundlage ihrer Persönlichkeitsrechte etwa vor antisemitischen Abwertungen oder sonstigen Negierungen von bestimmten Merkmalen wie der Hautfarbe in einer pluralen Gesellschaft zu schützen sind, s.a. Art. 2 AEMR, Art. 14 EMRK, Art. 3 Abs. 3 GG.
Unter Rekurs auf die GRCh (Art. 21 GRCh) hat die EU in der DS-GVO ein informationelles Diskriminierungsverbot geschaffen (Art. 9 DS-GVO), wonach besondere, nämlich sensible Daten nur in solchen Ausnahmefällen verarbeitet werden dürfen (Art. 9 Abs. 2 lit. h DS-GVO), die ausdrücklich in bestimmten Situationen erforderlich sind (Art. 9 Abs. 3 DS-GVO).
Mit dieser Bestimmung wird letztendlich auch die individuelle Vielfalt in einer Gesellschaft anerkannt. Individuelle Freiheiten sind jedoch auf ein zusammenhaltendes Gemeinwesen, auf Solidarität mit dem Anderen und Fremden angewiesen, die allerdings nicht bedingungslos erfolgen kann. So spricht Jean Améry 1977 bereits in seinem Essay „Grenzen der Solidarität“ zwar von seiner existenziellen Bindung an Israel, kritisiert aber namentlich das diskriminierende Verhalten der damaligen israelischen Regierung gegenüber den Palästinensern, das aktuell und kriegerisch fortdauert. Améry führt aus, dass die Chiffre Mensch in seinem Wertesystem höher steht als der Begriff Jude, obgleich er dessen furchtbare Schrecken im Holocaust selbst erfahren hat.
Eine kantische Rechtsordnung verlangt die tolerante Hinwendung zum anderen und ist heute nicht ohne das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung/Datenschutz in Verbindung mit einem informationellen Diskriminierungsverbot denkbar. Damit ist gleichzeitig ein menschenrechtlicher Kern in pluralistischen Demokratien angesprochen. Denn Demokratie bedeutet letztendlich die informationelle Rückbindung an den einzelnen Menschen als Teil der Bürgergemeinschaft, jenseits von Entrechtung.
Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit bilden - so der Verfassungsrechtler Andreas Voßkuhle - „das zentrale Nervensystem“ und die „normative Basis“ der europäischen Gemeinsamkeit und weltweiten Friedensordnung.
Kants Philosophie zum Frieden
Augenblicklich wird die internationale Situation von Kriegen bestimmt. Sie lenken den Blick auf Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ aus dem Jahr 1795. Kant forderte darin, die Staatenwelt zu organisieren, die Integration Europas unter Einbeziehung außereuropäischer Mächte zu sichern und vor allem nicht nur auf Waffen zu bauen. Mit diesen Gedanken hat Kant das Konzept des Völkerbunds nach dem Ersten Weltkrieg und das Konzept der Vereinten Nationen am Ende des Zweiten Weltkriegs beeinflusst. Auch die Mitglieder der EU haben sich in der Tradition von Kants Friedensphilosophie unter dem rechtsstaatlichen Dach der Union zusammengefunden.
In seiner Friedensphilosophie schrieb Dolf Sternberger 1986: „Der Friede ist das einzige Ziel von Politik, aber Politik ist auch der einzige Weg zum Frieden“ und „Der Anfang der Friedensphilosophie ist das Erschrecken“. Und der Schrecken über die einbrechenden neuen Kriege macht es mehr denn je notwendig, einen weltweiten Friedensstatus zu finden.
Frieden ist nach Kant erforderlich, um unter einem Rechtsstaat (rule of law) eine Verfassung zu sichern, die die Menschenrechte schützt und politische Transparenz (Aufklärung) vorsieht. Die kommunikativen Menschenrechte der Meinungs-, Informations-, Presse- und Medienfreiheit stehen heute für die Möglichkeiten, sich eine Meinung zu bilden und sich über politische und andere Themen von allgemeinem Interesse auch in virtuellen Medien zu informieren, s. hier Art. 19 AEMR, Art. 10 EMRK, Art. 11 GRCh, Art. 5 Abs. 1 GG.
In einer offenen Gesellschaft steht dem mündigen, informierten Bürger gleichzeitig ein Anspruch auf Schutz seiner Privatheit und Intimität/Datenschutz zu. Transparenz für den Einzelnen über die Verarbeitung seiner Daten durch den Staat oder Dritte sowie die Bergung privater Daten vor der Öffentlichkeit - das sind die zwingenden Konsequenzen aus dem Grund- und Menschenrecht auf Privatheit und Intimität, so ausdrücklich in Art. 7 und 8 GRCh. Vor diesem Hintergrund wurde in der DS-GVO ein Transparenzgrundsatz (Art. 5 Abs. 1 lit. a DS-GVO) verankert, der bestimmt, dass alle Informationen über die Verarbeitung von persönlichen Daten verständlich, leicht zugänglich und im Kontext des jeweiligen Anwendungszusammenhangs von den Verantwortlichen gegenüber einer betroffenen Person offengelegt werden müssen. Zudem sollen transparente Verfahren durch unabhängige Instanzen, wie etwa den deutschen BfDI, gesichert werden, Art. 53 DS-GVO. Die Reichweite des Transparenzgrundsatzes bezieht sich ggf. auch auf die Auswirkungen KI-gestützter Ergebnisse.
Das Vorliegen einer ausreichenden Tatsachengrundlage ist zweifellos bei der Berichterstattung sehr wichtig. Datenschutzrechtliche Grenzen sind daher im Medienbereich nur eingeschränkt zu beachten, etwa bei sensitiven Daten und nicht weiter begründeter, reiner Schmähkritik. Die EU sieht daher in ihrem Anwendungsbereich eine privilegierte Regelungsbefugnis für die Datenverarbeitung von Presse und Medien vor, Art. 85 DS-GVO. Die Mitgliedstaaten sind unter dem Schirm der GRCh verpflichtet (Art. 52 Abs. 3 und 53 GRCh), abgewogene Regelungen im Verhältnis zwischen Persönlichkeitsschutz/Datenschutz und Medienfreiheit zu schaffen, Art. 52 Abs. 3 und 53 GRCh. Und iSv Kant ist die Wahrnehmung von Medienfreiheit und Medienverantwortung eine Lebensnotwendigkeit für eine offene Gesellschaft und deren Friedensordnung. Kants Aufklärung weist unabhängig von ideologischen Kontrasten und unterschiedlichen Auffassungen auch den Weg in eine friedenssichernde Informationsordnung, wie sie sich bereits in der DS-GVO und der KI-VO abzeichnet.