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Lea Stegemann, Der immaterielle Schadensersatz bei Datenschutzverstößen

Prof. Dr. Gregor Thüsing, LL.M. (Harvard) und Johannes Zhou, Ass. iur.

Lea Stegemann, Der immaterielle Schadensersatz bei Datenschutzverstößen, Baden-Baden (Nomos) 2024, ISBN 978-3-7560-1448-4, 89 EUR

ZD-Aktuell 2024, 04508   Was ist ein immaterieller Schaden iSd Art. 82 Abs. 1 DS-GVO? Dabei handelt es sich um eine der grundlegenden Fragen des Datenschutzrechts, die derzeit unzählige betroffene Personen, Verantwortliche und nicht zuletzt Gerichte umtreibt. Denn sie entscheidet darüber, ob es Massenklagen geben wird oder nicht – wenn man nicht bereits von einer Klageindustrie sprechen kann. Art. 82 Abs. 1 DS-GVO beschäftigt aber nicht nur die Praxis, sondern ist auch wiederholt Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Zu nennen sind die Arbeiten von Aliprandi „Der datenschutzrechtliche Schadensersatzanspruch“ (2023) sowie demnächst von Borchert „Durchsetzung des Beschäftigtendatenschutzrechts – Schadensersatz und Geldbußen nach der DS-GVO im Beschäftigungskontext“ (2024). Hier reiht sich die vorliegend besprochene Dissertation von Stegemann ein.

Das Thema ist wahrlich aktuell, und es bedarf dringend der wissenschaftlich vertieften Auseinandersetzung. Denn dunkel spricht der Mund der Pythia, deutungsoffen und interpretierbar in verschiedene Richtungen – leider jetzt auch der EuGH bei so wichtigen Fragen wie bei der Frage, was ein immaterieller Schaden ist, dessen Ersatz geltend gemacht werden kann. Jüngste Entscheidungen des EuGH machen das deutlich (EuGH ZD 2024, 150 mAnm Ligocki/Sosna und EuGH ZD 2024, 208; EuGH Urt. v. 25.1.2024 – C-687/21). Das Gericht hat u.a. festgestellt, dass Schadensersatz für immaterielle Schäden bereits auch derjenige verlangen kann, der befürchtet, dass seine personenbezogenen Daten aufgrund des eingetretenen Verstoßes gegen diese Verordnung künftig von Dritten missbraucht werden könnten – ein rein hypothetisches Risiko der missbräuchlichen Verwendung soll aber nicht genügen. Das nationale Gericht hat dann allein zu prüfen, ob diese Befürchtung unter den spezifischen Umständen, um die es geht, und im Hinblick auf die betroffene Person als begründet angesehen werden kann. Warten wir aber, wie die Rechtsanwaltschaft hierauf reagieren wird und ob – wie bereits vielfach befürchtet – die Entscheidungen Rückenwind für eine Klageindustrie sein können. Der EuGH wird demnächst Gelegenheit haben, weitere Hinweise zum immateriellen Schadensersatz zu geben (anhängig Rs. C-189/22 auf Vorlage des AG München; s.a. die Übersicht von Leibold ZD-Aktuell 2024, 01538).

Bis dahin – und auch danach – mögen die Hinweise der Dissertation helfen. Die Arbeit enthält viele wichtige Gedanken, wenn auch der eilige Leser sich auf die Lektüre einiger Abschnitte, die ihn interessieren, beschränken kann. Am Anfang steht ein Blick auf die Rolle der DS-GVO in der europäischen Wirtschaft – das ist interessant zu lesen, aber für die Frage des immateriellen Schadensersatzes vielleicht eher illustrativ als notwendig zur Analyse. Spezifisch juristisch wird es in einem zweiten Kapitel, wo sich die Verfasserin der Auslegung des Begriffs des immateriellen Schadens iSd Art. 82 Abs. 1 DS-GVO zuwendet. Hier gelingt ihr eine beeindruckende Bestandsaufnahme aller möglichen Argumente, unterteilt nach den klassischen Auslegungskanones: Wortlaut, Historie, Systematik und Telos. Ergänzt werden ihre Überlegungen durch die primärrechtskonforme Auslegung. Sie legt zunächst immer in großer Ausführlichkeit den allgemeinen Stellenwert des jeweiligen Arguments in der Rechtsprechung des EuGH dar, um dann spezifisch nach dem Gehalt des Arguments bei der Frage nach dem immateriellen Schadensersatz nachzugehen. An allgemeinen Ausführungen ist vielleicht etwas mehr geschrieben worden als zum Verständnis des Besonderen erforderlich. Dennoch muss man der Arbeit zugutehalten, dass sie – in dieser Ausführlichkeit eben bislang nicht geschehen – alle Argumente auf den Tisch legt und sie insgesamt zu überzeugenden Ergebnissen führt. Dieser Detailanalyse, deren Argumente auch in anderen angrenzenden Fragestellungen wichtig sein können, folgen ein Überblick über die Rechtsprechung ausgewählter Mitgliedstaaten und die Frage nach der kollektiven Durchsetzbarkeit des Art. 82 Abs. 1 DS-GVO – Stichwort: Musterfeststellungsklage und Massenverfahren. Sie legt hier einen Finger auf einen vielleicht irgendwann einmal wundwerdenden Punkt, denn die Frage des Rechts ist von der Frage seiner Durchsetzbarkeit nicht zu trennen. Was die Verfasserin hier zu den verschiedenen Durchsetzungsmöglichkeiten schreibt, dürfte die Praxis besonders interessieren. Weniger Interesse wird die Praxis, wohl aber Wissenschaft und Politik an ihren rechtspolitischen Überlegungen haben. Kritik und Verbesserungsvorschläge, denen sich die Verfasserin im letzten Abschnitt der Arbeit zuwendet, legen noch einmal auf etwa zwanzig Seiten dar, was man hätte besser machen können. Auch hier findet sich anregender Diskussionsstoff.

Insgesamt also eine Schrift, die es sich lohnt zu lesen, für jeden, der sich für das Thema interessiert, und ein Muss zur Lektüre, für jeden, der vertieft in die Materie eindringen will und die Perspektiven künftiger Rechtsprechung erahnen und bewerten will.

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