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Die Pflicht zur Publikation von Gerichtsentscheidungen umfasst auch Strafbefehle

Christine Dieterle ist Ministerialrätin und Referatsleiterin im Bayerischen Staatsministerium der Justiz in München. Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Auffassung der Verfasserin wieder.

ZD 2023, 369   Gerichte sind zur Publikation veröffentlichungswürdiger Entscheidungen verpflichtet. Nicht geklärt war bislang die Frage, ob dies auch für Strafbefehle gilt.

Grundsatzentscheidungen zur Publikationspflicht

Bereits 1997 nahm das BVerwG (BVerwGE 104, 105) eine Rechtspflicht der Gerichtsverwaltung zur Publikation veröffentlichungswürdiger Gerichtsentscheidungen an. Die Publikationspflicht leite sich „aus dem Rechtsstaatsgebot einschließlich der Justizgewährungspflicht, dem Demokratiegebot und auch aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung“, mithin aus staatsorganisationsrechtlichen Prinzipien ab. Der Veröffentlichung gerichtlicher Entscheidungen kommt dem BVerwG zufolge eine der Verkündung von Rechtsnormen vergleichbare Bedeutung zu (Informationsfunktion). Gerichtsentscheidungen können gesetzliche Regelungen konkretisieren, jedoch auch das Recht fortbilden. Bürger müssen in einer zunehmend komplexen Rechtsordnung zuverlässig in Erfahrung bringen können, welche Rechte sie haben und welche Pflichten ihnen obliegen. Weiterhin sollen Entscheidungen - dem Gewaltenteilungsgrundsatz entsprechend - auch Gegenstand öffentlicher Kritik und parlamentarischer Kontrolle sein (Kritik- und Kontrollfunktion), insbesondere Anstoß zu Gesetzesänderungen geben können. Daneben ermöglicht die Publikation von Judikaten auch eine fachwissenschaftliche Diskussion, die wiederum zur Fortentwicklung der Rechtsprechung beitragen kann (Funktionsfähigkeit der Rechtspflege).

 

Dieser Entscheidung schloss sich das BVerfG (ZD 2016, 77 mAnm Dieterle) im Jahr 2015 an und ging noch einen Schritt weiter. Die Veröffentlichungspflicht erstrecke sich nicht nur auf rechtskräftige Entscheidungen, sondern könne bereits vor Rechtskraft greifen. Eine bloß mögliche Gefährdung eines noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens durch die potenzielle Beeinflussung von Zeugen rechtfertigte dem BVerfG zufolge im konkreten Fall nicht die Zurückbehaltung der von einem Presseunternehmen begehrten anonymisierten Abschrift eines Strafurteils. Das BVerfG stellte dabei fest, dass „erst der prinzipiell ungehinderte Zugang zu Informationen ... die Presse in den Stand [versetzt], die ihr in der freiheitlichen Demokratie zukommenden Funktionen wirksam wahrzunehmen“. Der Presse komme neben einer Informations- auch eine Kontrollfunktion zu. Beide Funktionen seien berührt, wenn ein Pressevertreter zum Zwecke der Berichterstattung über ein gerichtliches Strafverfahren recherchiere. Mit der grundsätzlichen Veröffentlichungspflicht der Gerichte korrespondiere ein presserechtlicher Auskunftsanspruch der Medienvertreter.

 

Bisherige Rechtsprechung zur Veröffentlichung von Strafbefehlen

Offengeblieben ist jedoch die Frage, ob auch Strafbefehle unter die Publikationspflicht der Gerichte fallen und dem presserechtlichen Auskunftsanspruch unterliegen. Die Besonderheit des Strafbefehlsverfahrens liegt darin, dass eine Hauptverhandlung grundsätzlich nicht stattfindet, der Strafbefehl jedoch die Wirkungen eines rechtskräftigen Strafurteils haben kann (§ 410 Abs. 3 StPO). Das Strafbefehlsverfahren entlastet Gerichte und Staatsanwaltschaften, kann aber auch im Interesse des Beschuldigten liegen, da ein Verfahrensabschluss zügig und ohne öffentliche Hauptverhandlung erreicht wird - zumindest, wenn der Beschuldigte keinen Einspruch einlegt. Das Strafbefehlsverfahren findet vor allem bei Bagatelldelikten, aber auch bei Fällen mittlerer Kriminalität Anwendung.

 

Soweit ersichtlich, befasste sich bislang nur des VG Aachen (BeckRS 2020, 4781) mit der Frage der Herausgabe eines Strafbefehls. Das Gericht verpflichtete das beklagte Land zur Einstellung eines anonymisierten Strafbefehls in die Rechtsprechungsdatenbank NRWE oder alternativ zur Zusendung an den Kläger, einen an der Entscheidung interessierten Kommunalpolitiker. Das VG Aachen stützte den Zugangsanspruch auf § 4 Abs. 1 IFG NRW. Es ging davon aus, dass die Ver-öffentlichung gerichtlicher Entscheidungen eine Verwaltungsaufgabe und keine rechtsprechende Tätigkeit sei. Einen Vorrang der §§ 474 ff. StPO, die im Strafverfahren die Erteilung von Auskünften und Akteneinsicht regelten, lehnte das Gericht ab. Diese Vorschriften wiesen nicht denselben Regelungsgegenstand auf und hätten keinen abschließenden Charakter. Eine anonymisierte Entscheidungsabschrift sei kein Aktenbestandteil, sondern nur ein Auszug, bei dem essenzielle Teile der Entscheidung, nämlich die Namen der Beteiligten und ggf. weitere individualisierende Merkmale fehlten. Auf die Besonderheiten des Strafbefehlsverfahrens, insbesondere dass der Strafbefehl ohne Hauptverhandlung ergeht, ging das VG Aachen mit keinem Wort ein.

 

Das OVG NRW wurde in diesem Verfahren nicht angerufen. Wenig später lehnte es jedoch die vom VG Aachen vertretene Auffassung ausdrücklich ab und entschied (ZGI 2023, 82), dass § 4 Abs. 1 IFG NRW keinen Anspruch auf Veröffentlichung gerichtlicher Entscheidungen in einer Rechtsprechungsdatenbank gewähre. Die Regelung ziele nicht auf die Veröffentlichung von Informationen gegenüber einem allgemeinen Personenkreis ab, sondern auf die Übermittlung derselben an einen bestimmten Antragsteller. Im Übrigen sei hinsichtlich gerichtlicher Entscheidungen auch der Anwendungsbereich des IFG NRW nicht eröffnet. Denn dieses Gesetz finde nach § 2 Abs. 2 S. 1 IFG NRW auf Gerichte nur dann Anwendung, soweit sie Verwaltungsaufgaben wahrnehmen. Die Veröffentlichung gerichtlicher Entscheidungen stelle jedoch keine Verwaltungstätigkeit dar, sondern sei Kernstück der justiziellen Aufgaben der dritten Gewalt.

 

Letztere Auffassung trifft nicht zu, da die Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen idR nicht der richterlichen Unabhängigkeit unterfällt, sondern klassische Verwaltungstätigkeit darstellt (s. bereits BVerwGE 104, 105; Schoch, IFG, 2. Aufl. 2016, IFG § 1 Rn. 212). Nicht zuzustimmen ist dem VG Aachen allerdings in der Annahme, dass den §§ 474 ff. StPO kein Vorrang gegenüber § 4 Abs. 1 IFG NRW zukomme. Der BGH hat in Strafsachen klargestellt, dass auch für die Übermittlung anonymisierter Entscheidungsabschriften an private Dritte generell § 475 StPO gilt, da es sich um eine Auskunft aus Akten handelt und ein Personenbezug trotz Automatisierung hergestellt werden kann (ZD 2019, 31; ebenso BayObLG BeckRS 2022, 45997; BeckOK StPO/Wittig, 47. Ed. 1.4.2023, StPO § 475 Rn. 5.1).

 

Entscheidungen des VG München und BayVGH

Im Frühjahr 2023 befassten sich nun sowohl das VG München als auch der BayVGH in insgesamt drei Entscheidungen mit der Frage der Herausgabe von Strafbefehlen. Anlass hierfür waren keine Herausgabeverlangen privater Dritter, sondern pressrechtliche Auskunftsansprüche einer Zeitungsverlagsgruppe, die auch die o.g. Leitentscheidung des BVerfG herbeigeführt hatte.

 

Im ersten Verfahren begehrte ein Journalist vom AG Erding die Übersendung eines anonymisierten Strafbefehls. Das AG Erding teilte dem Journalisten lediglich mit, dass der Strafbefehl erlassen worden und mittlerweile rechtskräftig geworden sei. Der Betroffene sei u.a. wegen unerlaubten Umgangs mit Abfällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt worden, wobei die Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt worden sei. Darüber hinaus könnten weitere Einzelheiten aus dem Verfahren nicht mitgeteilt werden, da es sich um ein nicht-öffentliches Strafbefehlsverfahren handle. Das daraufhin vom Journalisten angerufene VG München verpflichtete im Wege der einstweiligen Anordnung mit Beschluss v. 14.3.2023 - M 10 E 22.6192 den Freistaat Bayern als Rechtsträger des AG Erding, dem Journalisten innerhalb einer Woche nach Rechtskraft des Beschlusses Auskunft durch Übersendung einer anonymisierten Kopie des Strafbefehls zu erteilen. Das VG München führte im Wesentlichen aus, dass die Rechtsprechung des BVerfG und des BVerwG keine Beschränkung der Publikationspflicht auf Urteile zu entnehmen sei. Das BVerfG habe im Hinblick auf die Publikationspflicht terminologisch gerade auf Gerichtsentscheidungen abgestellt, obwohl es im konkret entschiedenen Fall um ein Strafurteil gegangen sei. Auch die Gedanken, dass durch eine Veröffentlichung des Strafbefehls der Rechtsfortbildung sowie der Transparenz der Rechtsprechung gedient und öffentliche Kritik ermöglicht werden könne, griffen grundsätzlich bei einem Strafbefehl. Ansonsten wären Strafbefehle generell dem öffentlichen Diskurs entzogen, was im Hin-blick auf das Rechtsstaatsprinzip bedenklich erscheine. Ferner sei der Zweck des presserechtlichen Auskunftsanspruchs, der Presse Informationen über ein Strafverfahren zu gewähren, auch bei einem Strafbefehlsverfahren einschlägig. IÜ sei die Herausgabe eines Strafbefehls für den Verurteilten regelmäßig weniger belastend als die Herausgabe eines Strafurteils, da der Strafbefehl keine Angaben zu den persönlichen Verhältnissen des Verurteilten enthalte. Hinzu komme, dass es dem Betroffenen freistehe, gegen einen Strafbefehl Einspruch einzulegen, wenn er mit dessen Inhalt nicht einverstanden sei.

 

Der BayVGH (BeckRS 2023, 11628) bestätigte diese Entscheidung und ergänzte, dass sich der Verurteilte nicht auf den Resozialisierungsgedanken berufen könne, weil die Resozialisierung nach allgemeiner Auffassung als das herausragende Ziel des Vollzugs von Freiheitsstrafen angesehen werde. Die Vollstreckung der im Strafbefehl verhängten Freiheitsstrafe sei jedoch zur Bewährung ausgesetzt. Ein Recht des Verurteilten, nicht weiterhin „Gegenstand einer öffentlichen Auseinandersetzung“ zu werden, sei in Anbetracht der vom Strafbefehl erfassten Straftaten, die auf Grund der Tätigkeit der Firma des Verurteilten im Bereich der Abfallentsorgung gerade auch Interessen der Allgemeinheit berührten, nicht ersichtlich.

 

Am 3.5.2023 setzte sich das VG München (BeckRS 2023, 11605) in einem weiteren Verfahren mit der Frage nach Herausgabe eines Strafbefehls auseinander - nur in umgekehrter Konstellation. Der Eilantrag zielte hier darauf, dass die Herausgabe einer anonymisierten Strafbefehlsabschrift unterlassen werde. Auch hier kam das VG München zum Ergebnis, dass der Veröffentlichung des Strafbefehls keine gewichtigen Gründe entgegenstünden. Insbesondere könne der Antragsteller aus dem Umstand, dass er bewusst auf einen Einspruch gegen den Strafbefehl verzichtet habe, kein abwägungsfestes Recht auf Geheimhaltung der Hintergründe vor der Öffentlichkeit für sich ableiten.

 

Bewertung

Die drei Entscheidungen verdienen Zustimmung. Inhalte gerichtlicher Entscheidungen, die nicht in öffentlicher Verhandlung getroffen wurden, können nicht prinzipiell der Öffentlichkeit entzogen werden. Sämtliche vom BVerwG herausgearbeiteten Funktionen (Informations- und Kontrollfunktion sowie Funktionsfähigkeit der Rechtspflege, s.o.) sprechen für eine Herausgabe auch von Strafbefehlen an die Presse. Dass diese von der Staatsanwaltschaft vorformuliert werden und nur in einem summarischen Verfahren ergehen, steht der Veröffentlichung ebenfalls nicht entgegen. Denn wie aus § 408 Abs. 2, Abs. 3 StPO hervorgeht, darf der Amtsrichter einen Strafbefehl nach Prüfung des Akteninhalts nur erlassen, wenn diesem keine Bedenken entgegenstehen. Andernfalls lehnt er den Erlass des Strafbefehls ab oder beraumt eine Hauptverhandlung an.

 

Nicht übertragen werden können die Aussagen allerdings auf Auskunftsbegehren privater Dritter. Diese können als nicht am Verfahren Beteiligte allenfalls unter den Voraussetzungen des § 475 StPO eine Strafbefehlskopie erhalten. Der Informations- und Kontrollfunktion der Medien kommt eine überragende Bedeutung zu. Zudem unterliegen Journalisten gesteigerten Sorgfaltspflichten. So hat die Presse hinsichtlich des weiteren Umgangs mit Informationen etwa die Grundsätze der Verdachtsberichterstattung und zur Zurückhaltung bei Berichten über zurückliegende Straftaten, welche die Resozialisierung von Straftätern beeinträchtigen, zu beachten (s. BVerfG ZD 2016, 77 (78) mAnm Dieterle). Solchen Anforderungen unterliegen private Dritte nicht.

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