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„Gehe in das Gefängnis! Begib dich direkt dorthin! Gehe nicht über Los.“ MONOPOLY-Regeln der Behörden in Haftsachen bei Steuerhinterziehungsvorwürfen

Von Dr. Anja Stürzl, Rechtsanwältin in Frankfurt am Main

Bekanntlich ist die Umsatzsteuer – neben der Lohnsteuer – eine der wichtigsten staatlichen Einnahmequellen. Die systembedingte Betrugsanfälligkeit der Umsatzsteuer sowie die hieraus(allein in Deutschland jedes Jahr) resultierenden Steuerschäden in Milliardenhöhe, die insbesondere durch sog. Umsatzsteuerkarusselle entstehen, sind in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus der Ermittlungsbehörden geraten. Den Herausforderungen bei der Strafverfolgung aufgrund der Komplexität, Vielzahl an Beteiligten und den grenzüberschreitenden Strukturen soll vor allem auch durch neue Strukturen begegnet werden; (z. B. die europäische Staatsanwaltschaft oder die Zentralstelle für Umsatzsteuerbetrugsbekämpfung als Teil des neu geschaffenen Landesamts zur Bekämpfung der Finanzkriminalität).

Das Ziel der effektiveren Bekämpfung von Umsatzsteuerkarussellen ist richtig und wichtig. Die Umsetzung in der Praxis allerdings ist jedoch - jedenfalls in Teilen - höchst bedenklich. Insbesondere der Umgang mit der Anordnung von Untersuchungshaft scheint eher den Regeln des Spiele-Klassikers Monopoly zu folgen, wo es regelmäßig heißt: Gehe ins Gefängnis! Begib dich direkt dorthin!

Bei der Anordnung von Untersuchungshaft darf jedoch nicht vergessen werden, dass der Freiheitsentzug – insbesondere im Rahmen des Ermittlungsverfahrens – einen schweren Eingriff in das Freiheitsgrundrecht der Art. 2 Abs. 2, 104 GG darstellt. Sie darf nur angeordnet werden, wenn bei hoher Verurteilungswahrscheinlichkeit und unter Berücksichtigung des strengen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eine Freiheitsbeschränkung des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten ausnahmsweise erforderlich ist.

Der – in der Praxis wohl häufigste – Haftgrund der Fluchtgefahr liegt vor, wenn „bei Würdigung der Umstände des Einzelfalles die Gefahr besteht, daß der Beschuldigte sich dem Strafverfahren entziehen werde“ (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO). Insoweit ist stets durch eine Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls festzustellen, ob tatsächlich Fluchtgefahr vorliegt. Nach ständiger Rechtsprechung gilt: eine hohe Straferwartung als besonders gewichtiges Indiz allein vermag zwar keine Fluchtgefahr zu begründen; wohl aber in Verbindung mit weiteren Umständen. Daneben spielt in der Praxis in Verfahren wegen Steuerhinterziehungsvorwürfen vor allem das Indiz der sog. Auslandsbeziehungen eine große Rolle.

Und genau hieraus ergibt sich das Dilemma bei Steuerhinterziehungsvorwürfen (insbesondere) Umsatzsteuerkarussellen:

Bei dem Verdacht einer Beteiligung an einem Umsatzsteuerkarussell besteht aufgrund der innergemeinschaftlichen Lieferketten - wie sie mittlerweile in allen Wirtschaftsbereichen üblich sind –zwangsläufig ein grenzüberschreitender Bezug und, aufgrund der dem Vorwurf des Karussells immanenten Absprache zwischen den Beteiligten, auch persönliche (Auslands-)Beziehungen.

Zudem ist bei einem hohen Warenumschlag von teuren Elektronikartikeln die magische Grenze von 50.000 Euro (angeblichem) Steuerschaden schnell erreicht, weswegen in diesen Fällen auch regelmäßig ein hohe Straferwartung gegeben ist (hoher Schaden & regelmäßig aufgrund mehrerer Beteiligter als „Bande“). Die gleichzeitig vorliegende – aufgrund der steuerlichen Haftung für den Gesamtschaden nahezu immer potenziell existenzvernichtende Steuerforderung – zementiert dann die (vermeintliche) Fluchtgefahr endgültig.

Zusammengefasst: In Verfahren wegen Umsatzsteuerkarussellen sind zwei Kriterien, die zur Begründung einer Fluchtgefahr herangezogen werden können und, in Kombination auch ausreichend sind, – völlig unabhängig von den jeweiligen Umständen im Einzelfall – immer objektiv erfüllt.

Zwar verbietet sich nach ständiger Rechtsprechung eine bloß schematische Beurteilung. Aber faktisch ist die Konsequenz, dass Haftbefehle in diesen Konstellationen unabhängig von den Umständen im Einzelfall kaum angreifbar sind. Es kann schlichtweg immer eine Fluchtgefahr angenommen werden; unabhängig davon, ob wirklich jemals ein französischer Handelspartner in seinem Warenlager ein Feldbett für seinen flüchtigen deutschen Geschäftspartner aufgestellt hat. Wenn selbst ein fester Wohnsitz, ein gesicherter Arbeitsplatz und lukratives Einkommen, gefestigte familiäre und soziale Bindungen, die ständige Verfügbarkeit und Kooperation im Verfahren schon vor Erlass des Haftbefehls nicht ausreichen, um eine Fluchtgefahr zu widerlegen, scheint salopp gesagt: Jede - angebliche - Verstrickung in eine Umsatzsteuerhinterziehungskette stellt einen Haftgrund dar. § 112 Abs. 3 StPO lässt grüßen! Es soll schon vorgekommen sein, dass selbst die freiwillige (vorzeitige) Rückreise aus dem außereuropäischen Ausland in Kenntnis des Haftbefehls vom Haftrichter als „Flucht nach vorn“ und damit als Fluchtgefahr gewertet wurde. Aus Verteidigersicht bleibt zu hoffen, dass sich die Spielregeln ändern.

Hilfreich hierfür wäre schon der Abschied vom Indiz der sog. Auslandskontakte/-beziehungen, in deren Kontext häufig immer noch bloße Sprachkenntnisse als Indiz genannt werden. Ein Relikt aus der Vergangenheit, das nicht nur den politischen, gesetzgeberischen und gesellschaftlichen Entwicklungen widerspricht, sondern inhaltsleer ist, da kaum vorstellbar ist, dass heutzutage irgendjemand keine Auslandsbeziehungen in diesem Sinne hat.

Und bis dahin bleibt zu hoffen, dass die Staatsanwaltschaft in geeigneten Fällen (noch häufiger) freiwillig die „Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-Freikarte“ vergibt.

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