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Unbequeme Unionsgrundrechte im allgemeinen Strafrecht

Von Professor Dr. Jens Bülte, Universität Mannheim

Im Steuerstrafrecht und im Wirtschaftsstrafrecht gehört der Blick auf den europäischen Rahmen zur Routine der Justiz. Im allgemeinen Strafrecht scheint der EU-Bezug dagegen noch nicht hinreichend bekannt zu sein: Der BGH hatte in seinem Urteil zum Betrug durch Routenplaner (v. 5.3.2014 – 2 StR 616/12) das Unionsrecht als für das Strafrecht nur eingeschränkt bindend angesehen (krit. Hecker JuS 2014, 1043, 1046). Das BVerfG ignorierte ferner den Unionsrechtsbezug in seiner Entscheidung über die Rückwirkungen bei Vermögensabschöpfungen (Beschl. v. 10.2.2021 – 2 BvL 8/19 m. Anm. Bülte NZWiSt 2021, 203 ff.).  

Spätestens seit der Åkerberg Fransson-Rechtsprechung (Urt. v. 26.2.2013 – 617/10) des EuGH steht jedoch fest: Auch deutsches Kernstrafrecht unterliegt europäischem Einfluss. Die Kontrolle jeder Strafvorschrift auf europäische Bezüge ist Pflicht, nicht Kür. Das europäische Lebensmittel-, Wettbewerbs- oder Arzneimittelrecht wirken auf § 263 StGB ein, und § 261 StGB ist grundlegend europäisch geprägt. Das Abschöpfungsrecht ist ebenso im Licht des Unionsrechts zu lesen wie das Betäubungsmittel-, Korruptions-, Umwelt- und Aufenthaltsstrafrecht.   

Mit Blick auf den Grundrechtsschutz hat das BVerfG (Beschl. v. 6.11.2019 – 1 BvR 16/13, „Recht auf Vergessen I“) ausgeführt: Dient nationales Recht der Durchführung von Unionsrecht, so gilt für die Anwendung nationaler Rechtsvorschriften primär der Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes. Die europäischen Grundrechtsstandards sind jedoch Prüfungsmaßstab, wenn konkrete und hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass das Grundgesetz keinen hinreichenden Grundrechtsschutz i.S.d. EU-GRCh gewährleistet.  

Die Prüfung auf solche Anhaltspunkte muss in Staatsanwaltschaften und Gerichten noch zur Routine werden. Aber auch Kriminalpolitik und Strafrechtswissenschaft müssen diese europäischen Mechanismen noch verinnerlichen:  

In der Diskussion über den Wiederaufnahmegrund nach § 362 Nr. 5 StPO wurde zwar Art. 103 Abs. 3 GG diskutiert, nicht aber hinreichend berücksichtigt, dass § 211 StGB im Einzelfall der Umsetzung von Art. 15 Abs. 2 Richtlinie (EU) 2017/541 dienen kann. Eine Wiederaufnahme könnte daher bei Morden durch Terroranschläge gegen das Doppelverfolgungsverbot aus Art. 50 EU-GRCh verstoßen. Das in § 362 Nr. 5 StPO genannte Verbrechen des Völkermordes fällt in die Zuständigkeit von Eurojust (Anhang 1 VO [EU] 2018/1727), so dass auch § 6 VStGB der Durchführung von Unionsrecht dienen könnte. Endgültig kann über die Anwendbarkeit des neuen Wiederaufnahmegrundes im konkreten Fall freilich nur der EuGH entscheiden.  

Die unionsrechtliche Prägung des deutschen Strafrechts übersieht auch, wer die strafrechtliche Prüfung von Straßenblockaden durch Umweltaktivisten nur auf die deutschen Grundrechte verkürzt. Dient § 240 StGB in concreto der Durchführung von Unionsrecht, man denke nur an die Rechtsprechung des EuGH zu den Brenner-Blockaden, welche Wirkung könnten Art. 11 und 12 EU-GRCh dann haben? Zudem lohnt sich ein Blick in die EMRK, hat doch der EGMR in der in der LuxLeak-Entscheidung (EGMR [GK] v. 14. 2. 2023 – No. 21884/18, Halet/LUX; eingehend dazu F. MeyerJZ 2023, 261 ff.) Reichweite und Gewicht des Menschenrechts der Meinungsfreiheit demonstriert.  

Wer über die Strafbarkeit des „Klimaklebens“ entscheidet, muss alle Grund- und Menschenrechte umfassend prüfen und abwägen, die summarische Prüfung deutschen Verfassungsrechts reicht nicht aus. Während die Strafgerichte allerdings noch uneins über die Strafbarkeit von Protestaktionen sind, geht die Generalstaatsanwaltschaft München schon einen Schritt weiter, erklärt die „Letzte Generation“ zur kriminellen Vereinigung und lässt Telefonate mit Journalisten abhören (dpa v. 25.6.2023). So setzt man in einem Strafverfahren gefährliche Ankereffekte und schadet dem europäischen Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts.  

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