Von Prof. Dr. Thomas Rönnau, Professor an der Bucerius Law School in Hamburg
Corona-Pandemie, unterbrochene Lieferketten, Ukrainekrieg – alles Ereignisse, die die Preise für medizinische Masken, Desinfektionsmittel und auch wichtige Konsumgüter wie Benzin, Erdgas und Speiseöl zum Teil drastisch in die Höhe getrieben haben. Aber handelt es sich deshalb immer gleich um Wucher, der eine straf- bzw. bußgeldrechtliche Haftung auslöst? Der in § 291 StGB verankerte Straftatbestand setzt voraus, dass der Täter eine Schwächesituation des Opfers dadurch ausbeutet, dass er diesem Vermögensvorteile verspricht oder gewährt, die in einem „auffälligen Missverhältnis“ zur Gegenleistung stehen. Zwar ist die Hürde für ein tatbestandsmäßiges Verhalten zu Recht einigermaßen hoch angesetzt, da die Etikettierung als Wucher einen starken Eingriff in die Vertragsfreiheit (als zentralem Baustein der Marktwirtschaft) darstellt, der gut begründet werden muss. Gleichzeitig sind die Grenzen zwischen noch zulässigem, bloß moralisch verwerflichem und strafwürdigem Verhalten aber fließend und im Gesetz nicht klar vorgegeben.
Die praktische Bedeutung des strafrechtlichen Wuchers ist in „normalen (Friedens-)Zeiten“ gering. Zur Feststellung eines auffälligen Missverhältnisses wird bei der Ermittlung der zu vergleichenden Leistungen auf den Marktpreis abgestellt, der sich in einer Marktwirtschaft durch Angebot und Nachfrage ergibt. Standardsituation ist ein Gleichgewichtsmarkt, auf dem sich die angebotene und die nachgefragte Menge eines Gutes ungefähr entsprechen. Nutzt hier der Täter wie z.B. in Schlüsseldienstfällen eine konkrete Notlage des Opfers aus, indem er einen vom Marktpreis, besonderen Taxen o.ä. krass abweichenden Preis für die Türöffnung fordert, liegt ausnahmsweise einmal ein Wucher gem. § 291 StGB vor.
Größte Probleme bereitet dagegen die Fixierung der Wuchergrenze bei einem Marktungleichgewicht, wie es häufig in Krisen-/Kriegszeiten (jüngst etwa zu Beginn der Corona-Pandemie) zu beobachten ist. Ein plötzlicher Bedarf an Gütern (z.B. nach Schutzmasken) löst bei einem auf die Produkte angewiesenen Teil der Bevölkerung (= Zwangslage) eine große Nachfrage und damit einen Nachfrageüberhang aus, der die Preise z.T. extrem ansteigen lässt. Der Durchschnittspreis als Maßstab für die Preisangabe auf ausgeglichenen Märkten steht nun nicht mehr zur Verfügung. Vielmehr ist nach anderen Parametern Ausschau zu halten. Diskutiert wird hier vor allem der Rückgriff auf den gerechten Preis, wonach der Händler bei der Preisgestaltung nur seine (Gestehungs-)Kosten zuzüglich eines angemessenen Gewinnaufschlags berechnen darf. Unübersehbar entfernt sich dieser auf Billigkeit rekurrierende Ansatz vom Grundgedanken der Marktwirtschaft, der die Preisbildung den Marktteilnehmern überlässt. Gleichzeitig fällt hier ein wichtiger Preisanpassungsmechanismus weg. Denn die Aussicht auf hohe Gewinnmargen führt regelmäßig auf nicht-mono- bzw. -oligopolistisch strukturierten Märkten zu zahlreichen Marktneueintritten und Preiserhöhungen bei den bisherigen Anbietern der nachgefragten Güter mit dem ökonomisch erwünschten Effekt, dass sich die Preise bei nunmehr erweitertem Angebot jedenfalls mittelfristig wieder auf akzeptablem Niveau einpendeln. Greift dagegen der Staat – seien es die Behörden oder die Gerichte – durch die Vorgabe von Preisobergrenzen in diesen Marktmechanismus ein, wird dieser Effekt vereitelt. Große Zurückhaltung ist also dabei geboten, die „unsichtbare Hand des Marktes“ (Adam Smith) wegzuziehen. Zwischenzeitlich auftretende Härten sollten in einem Sozialstaat durch parlamentarisch abgesicherte Transferleistungen oder administrativ vorgenommene Zuteilungen (etwa von Masken) überbrückt werden. Alles andere würde den Staat und insb. die Gerichte (mangels ausreichender Informationen für die Festsetzung angemessener Preise) überfordern.
Die Strafjustiz hat demnach bisher augenscheinlich klug agiert, da Ermittlungen in möglichen Fällen nicht bekannt geworden sind.