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Der Seitenblick im Strafprozess

Von Dr. Oliver Ratzel, Der Autor ist Vorsitzender Richter am Landgericht Mannheim.

Seit Anfang 2020 hält die Pandemie die Welt in Atem und damit auch das Rechtswesen. Die Juristen haben ihren Teil der Herausforderung beherzt angenommen. Seit dem Frühjahr 2020 beschäftigt sich eine Vielzahl von Veröffentlichungen in den Fachzeitschriften mit den Problemen, die Betriebsschließungen, Reise- und Beherbergungsverbote oder Kontaktbeschränkungen für materielle Rechtsverhältnisse, aber auch für die Prozessführung bedeuten. Mit leichter, aber unvermeidlicher Verzögerung begannen dann auch die Gerichte, ihren Teil beizutragen.

Nun, nach über einem Jahr mit drei Infektions- und ungefähr so vielen Lockdown-Wellen greift die Justiz bereits auf einen beträchtlichen Erfahrungsschatz bzw. Werkzeugkasten zu. Um der Strafjustiz die Frustration reihenweise platzender Verfahren, insb. Umfangsverfahren zu ersparen, hat der Gesetzgeber im März 2020 mit bemerkenswerter Schnelligkeit den § 10 EGStPO reformiert und damit – zumindest auf zwei Jahre befristet – die Unterbrechungsregelungen des § 229 StPO um eine pandemie-spezifische Komponente ergänzt. Sinn und Nutzen dieser Vorschrift liegen aus Sicht der Gerichte auf der offenen Hand, zumal der BGH im November 2020 (Beschl. v. 19.11.2020 – 4 StR 431/20) klargestellt hat, dass ein Feststellungsbeschluss auf dieser Grundlage infolge seiner Unanfechtbarkeit nur am Maßstab der Willkür zu prüfen ist.

Freilich hilft § 10 EGStPO nur dabei, keine Hauptverhandlung durchzuführen. Wie zu prozessieren ist, wenn prozessiert werden muss, ist eine andere Frage.

Der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen zeigt, dass auch eine flexible Handhabung der StPO nicht allzu viel ermöglicht. Die Strafrichterin beim Amtsgericht kann uU auf das Strafbefehlsverfahren ausweichen. In Nicht-Haftsachen mag man die Hauptverhandlung verschieben oder mit geringerer Dichte terminieren, was freilich mit dem Ausblick auf deutlich erhöhten Erledigungsdruck in der Zukunft erkauft sein will. Zwischen diesen dürftigen Optionen an entgegengesetzten Enden des Spektrums klafft also eine Lücke, die man in der gegenwärtigen Rechts- und Sachlage nur mit den allerorten üblichen Abstands- und Hygienemaßnahmen, dem Tragen von Masken oder dem Ausweichen in den luftigsten Saal stopfen kann und dabei hoffen, es werde schon alles gutgehen. (Eine Formulierung mit klar definiertem Anwendungsbereich…) Der verfassungsmäßige Auftrag der dritten Staatsgewalt rechtfertigt das gewiss. IÜ weisen Beschleunigungsgrundsatz und Konzentrationsmaxime im Grunde stets klar in eine Richtung. Genau deswegen sollte man den Blick nach zusätzlichen Möglichkeiten schweifen lassen – und sei es der neidische Seitenblick auf § 128a ZPO. Sicher gibt es Strafverfahren, bei denen eine solche Regelung nicht passt, und vielleicht ist das sogar die Mehrzahl. Aber das heißt ja nicht, dass sie bei keinem passt. Den sinnvollen Anwendungsbereich gälte es zu eruieren. In umfangreichen Wirtschaftsstrafverfahren könnten Teile der Beweisaufnahme womöglich auch digital über die Distanz sinnvoll geleistet werden. Dem Zivilrichter räumt die Prozessordnung ein, nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, ob eine solche Verfahrensgestaltung angemessen ist. Wäre das nicht auch dem Strafrichter zuzutrauen?

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