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Das „Bevölkerungsschutzgesetz“ als ultima ratio?

Von Dr. Astrid Lilie, Die Autorin ist Rechtsanwältin und Fachanwältin für Strafrecht in Frankfurt.

Die Corona-Pandemie beherrscht derzeit das Weltgeschehen. Weder die Bevölkerung noch der Gesetzgeber waren auf diese Pandemie und ihre Folgen vorbereitet. Das Infektionsschutzgesetz (IfSG) ist in kürzester Zeit mehrfach geändert worden. Diese Änderungen wurden durch die „Bevölkerungsschutzgesetze“ beschlossen, was die Lesart der Strafnormen nicht vereinfacht. So wird nach der Vorschrift des § 74 IfSG mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, „wer eine in § 73 Abs. 1 oder Abs. 1a Nummer 1 bis 7, 11 bis 20, 22, 22a, 23 oder 24 bezeichnete vorsätzliche Handlung begeht und dadurch eine in § 6 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 genannte Krankheit, einen in § 7 genannten Krankheitserreger oder eine in einer Rechtsverordnung nach § 15 Absatz 1 oder Absatz 3 genannte Krankheit oder einen dort genannten Krankheitserreger verbreitet“. Wer diesen Satz bis zum Ende gelesen hat, wird unweigerlich an das Bestimmtheitsgebot denken. Folgt man dem Verweis in der Strafvorschrift des § 74 IfSG zur Bußgeldvorschrift des § 73 Abs. 1a Nr. 24 IfSG wird man von dort weiterverwiesen auf die unter anderem neu geschaffenen § 36 Abs. 8 und Abs. 10 IfSG. Zusammengefasst darf die Bundesregierung Rechtsverordnungen erlassen, die keiner Zustimmung durch den Bundesrat bedürfen. Bei Verstößen gegen diese Vorschriften führt der Kettenverweis zu einer Strafbarkeit.

Das Strafrecht beinhaltet bereits eine Vielzahl von Strafvorschriften zum Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit, sodass eine Übertragung des COVID-19 de lege lata strafbarkeitsbegründend sein kann. Der Gesetzgeber hat es dennoch für erforderlich gehalten, darüberhinausgehende weitere Straftatbestände zu schaffen. Das Ziel soll der Schutz der öffentlichen Gesundheit und die Eindämmung von Infektionskrankheiten sein. Dieses Ziel scheint nach Auffassung des Gesetzgebers ohne die zusätzlichen Strafnormen nicht erreichbar gewesen zu sein. Diese Auffassung zu teilen ist jedoch vor dem Hintergrund der Bedeutung von Strafrecht als ultima ratio nur schwer möglich. Bei Verstößen gegen die Verordnungen wird es sich in der Regel um ein für sich genommen sozialadäquates, aber unerwünschtes Verhalten handeln.

Die Erweiterung der Strafnormen im Rahmen der „Bevölkerungsschutzgesetze“ sind beispielhaft für die zunehmende Verstrafrechtlichung der Gesetzgebung. Wenn der Gesetzgeber die Einstufung als Ordnungswidrigkeit eines Fehlverhaltens als nicht mehr angemessen erachtet, muss die Konsequenz daraus gleich eine (neue) Strafnorm sein? Vor dem Hintergrund der zunehmenden Strafnormen und der damit einhergehenden Aushöhlung des Ultima-ratio-Prinzips besteht Anlass darüber nachzudenken, ob eine neue Kategorie für derartiges Fehlverhalten entwickelt werden muss, die keine Straftaten, sondern vielmehr Übertritte umfasst.

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