Am 17. Juli 2024 entscheidet das EuG darüber, ob die TikTok-Mutter ByteDance den Regelungen des Digital Markets Act (DMA) unterliegt (Rs. T-1077/23). Die EU-Kommission hatte ByteDance mit Beschluss vom 5. September 2023 als sogenannten Torwächter (engl. Gatekeeper) benannt.
Insgesamt werfen die Regelungen des DMA schwierige Auslegungsfragen auf, die eine Klärung durch die Europäischen Gerichte erforderlich machen. Unklar ist insbesondere, wie eine vermutete Gatekeeper-Eigenschaft widerlegt werden kann und welche Nachweise hierfür erforderlich sind. Mit diesen Fragen wird sich das EuG erstmals befassen.
Die Gatekeeper-Eigenschaft und ihre Folgen
Die Gatekeeper-Eigenschaft ist zentral für die Anwendbarkeit des DMA, der zahlreiche Verhaltenspflichten für Gatekeeper vorsieht (Art. 5-7 DMA).
Art. 3 Abs. 1 DMA sieht für die Benennung von Gatekeepern ein Größen-, Gateway- und Dauerhaftigkeitskriterium vor: So muss das jeweilige Unternehmen einen erheblichen Einfluss auf den Binnenmarkt haben, einen zentralen Plattformdienst (CPS) bereitstellen und hinsichtlich seiner Tätigkeiten eine gefestigte und dauerhafte Position innehaben oder absehbar in naher Zukunft erlangen.
CPS sind in Art. 2 Nr. 2 DMA abschließend aufgezählt und enthalten Dienste wie z.B. Online-Suchmaschinen, Betriebssysteme, soziale Netzwerke oder Video-Sharing-Plattform-Dienste, die jeweils gesondert definiert sind. Die in Art. 3 Abs. 2 DMA genannten quantitativen Schwellenwerte knüpfen etwa an Umsatz, Marktkapitalisierung und Anzahl monatlicher Nutzer an. Werden diese Größenmerkmale erfüllt, besteht eine widerlegbare Vermutung, dass es sich bei dem Unternehmen um einen Gatekeeper handelt, der einen erheblichen Einfluss auf den Binnenmarkt hat.
Gatekeeper müssen pflichtgemäßes Verhalten nachweisen
Der DMA knüpft zahlreiche Verhaltenspflichten an die Gatekeeper-Stellung. Diese sollen bestreitbare und faire Märkte im Digitalsektor gewährleisten und ggf. zu einer Verhaltensanpassung/-änderung der Gatekeeper führen. Die Regelungen reichen etwa vom Verbot der Selbstbevorzugung eigener Dienste beim Ranking bis zu Interoperabilitätsverpflichtungen. Darüber hinaus soll der DMA – im Vergleich zu kartellrechtlichen Verfahren – zu einer Verfahrensbeschleunigung führen.
Die Verhaltenspflichten sind zum Großteil aus kartellrechtlichen Verfahren bekannt und diesen nachempfunden. Entsprechend stellt sich die Frage, inwieweit marktbeherrschende Unternehmen nach kartellrechtlichem Verständnis – die dem Missbrauchsverbot nach Art. 102 AEUV, § 19 GWG unterliegen – auch dem DMA unterworfen sind. Die Antwort liegt in einer Vielzahl von Bestimmungen des DMA, welche die eigentliche Wirkrichtung kartellrechtlicher Vorschriften umkehren. Nicht die Kommission muss nachweisen, dass die Normadressaten gegen Bestimmungen des DMA verstoßen. Vielmehr wird die Rechtsdurchsetzung des DMA dadurch vereinfacht, dass es grundsätzlich an den regulierten Unternehmen ist, nachzuweisen, dass sie den Verhaltenspflichten des DMA entsprechen.
Dazu müssen sie unter anderem Compliance-Berichte erstellen, die diese Bemühungen ausführlich darlegen und erläutern. Das bindet erhebliche personelle und finanzielle Ressourcen der Unternehmen. Sie sind insbesondere angehalten, eine DMA-"Compliance-Funktion" samt Compliance-Beauftragten einzurichten, um unternehmensintern die Einhaltung der Verhaltenspflichten zu überwachen und als Ansprechpartner der Kommission zu fungieren. Stellt die Kommission fest, dass die Maßnahmen der Unternehmen unzureichend sind, kann sie hohe Bußgelder verhängen und verhaltensbezogene oder ggf. (als ultima ratio) strukturelle Abhilfemaßnahmen (wie z.B. eine Entflechtung) anordnen.
Art. 13 DMA verbietet es zudem, die Verhaltenspflichten zu umgehen. Auch konzerninterne Umstrukturierungen können die Anwendbarkeit der Verhaltenspflichten nicht verhindern. Normadressat ist – wie im Kartellrecht – stets die wirtschaftliche Einheit, also die Gruppe einschließlich "aller verbundenen Unternehmen" (Art. 2 Nr. 27 DMA).
Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass Unternehmen im Digitalsektor eine Feststellung der Gatekeeper-Eigenschaft vermeiden bzw. abwenden wollen. Sie befürchten einen Wettbewerbsnachteil gegenüber solchen Unternehmen, die nicht dem Regelungsregime des DMA unterworfen sind. Dies hat praktisch bereits dazu geführt, dass einzelne Unternehmen davon abgesehen haben, bestimmte Produkte oder Services in der EU anzubieten. So hält Apple mit Verweis auf den DMA die Veröffentlichung von Apple Intelligence in der EU zurück, ebenso die iPhone Bildschirmübertragung auf den Mac und die Bildschirmübertragung in SharePlay. Auch Microsoft hatte seinen KI-Assistenten erst mit Verzögerung in der EU ausgerollt.
ByteDance wehrt sich gegen Einordnung
Die qualitativen Voraussetzungen für eine Gatekeeper-Eigenschaft werden in der Praxis weitgehend von den in Art. 3 Abs. 2 DMA geregelten quantitativen Voraussetzungen überlagert, die sich an bestimmten Größenmerkmalen orientieren. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, ist die Kommission angehalten, eine Marktuntersuchung einzuleiten, wenn sie ein Unternehmen dennoch als Gatekeeper designieren möchte. Damit ist auch die Stoßrichtung des DMA klar: Es sollen primär Dienste besonders großer Digitalkonzerne reguliert werden, die für gewerbliche Nutzer wichtig sind, um Endkunden zu erreichen. Die Erwägungsgründe des DMA sprechen insoweit von "extremen Größenvorteilen" und "beträchtlichen Abhängigkeiten" (lock-in effects), die etwa durch starke Netzwerkeffekte und fehlende Parallelverwendung mehrerer Dienste noch verstärkt werden können.
Liegen die in Art. 3 Abs. 2 DMA geregelten Voraussetzungen vor, wird nach Art. 3 Abs. 3 DMA außerdem eine Mitteilungspflicht ausgelöst, das heißt ein Unternehmen muss der Kommission von sich aus melden, dass die quantitativen Voraussetzungen erfüllt sind. Unternehmen können dann nach Art. 3 Abs. 5 UAbs. 1 DMA nachweisen, dass die Kriterien für eine Benennung ausnahmsweise nicht vorliegen.
Für ByteDance sah die Kommission das Vorliegen der quantitativen Voraussetzungen als gegeben an. ByteDance hat insoweit verschiedene Argumente gegen eine Gatekeeper-Eigenschaft vorgebracht, die von der Kommission allesamt verworfen wurden. So wurde das Argument von ByteDance, dass es mangels Netzwerkeffekten zu keinem Lock-in von Endnutzern sowie gewerblichen Nutzern kommen könne, für nicht überzeugend befunden. Dies ist insofern bemerkenswert, als ähnliche Argumente von der Kommission in anderen Fällen, in denen diese von einer Gatekeeper-Benennung abgesehen hat, akzeptiert wurden (etwa im Fall des Samsung Internet Browsers oder Gmail).
Weiter brachte ByteDance vor, TikTok sei relativ zu anderen sozialen Netzwerken wie Facebook und Instagram gemessen an der Anzahl seiner Nutzer deutlich kleiner. Auch das überzeugte die Kommission nicht, obwohl sie ein solches Vorbringen in anderen Fällen als ausreichend angesehen hatte (z.B. im Fall des Samsung Internet Browsers oder im Fall von Apples iMessage). Im Fall von Gmail und Outlook hatte die Kommission die Gatekeeper-Eigenschaft zudem auch dann verneint, wenn die CPS eine relativ große Zahl von Nutzern hatten.
Schließlich hat ByteDance auch vorgetragen, dass seine hohe Marktkapitalisierung im Wesentlichen auf außereuropäischem Geschäft (in China) beruhe, weshalb diese nicht als Proxy für den erforderlichen erheblichen Einfluss auf den Binnenmarkt dienen könne. Weil aber weder der Normtext noch die Erwägungsgründe des DMA eine derartige geographische Begrenzung für die quantitative Voraussetzung der Marktkapitalisierung heranziehen, hat die Kommission diesen Vortrag von ByteDance ebenfalls verworfen.
EuG entscheidet über Nichtigkeitsklage
ByteDance hat die Entscheidung der Kommission nicht akzeptiert und Rechtsmittel eingelegt. Statthaft war insoweit die Nichtigkeitsklage. Diese ist insbesondere dann begründet, wenn die Kommission bei Feststellung der Gatekeeper-Eigenschaft gegen Unionsrecht verstoßen hat.
Die Kriterien zur Feststellung der Gatekeeper-Eigenschaft geben dabei durchaus Potenzial für Streitigkeiten über die richtige Auslegung. So hält ByteDance den rechtlichen Beurteilungsstandard der Kommission für die Widerlegung nach Art. 3 Abs. 5 DMA für unzutreffend. Er schließe qualitative Nachweise aus und verlange "überzeugende Nachweise" dafür, dass TikTok kein wichtiges Zugangstor sei. Was solche "überzeugenden Nachweise" seien, präzisiere die Kommission jedoch nicht.
Daneben moniert ByteDance, dass die Kommission sich in Widersprüche verstricke, wenn sie ähnliche Argumente in einem Verfahren berücksichtigt, nur um sie in der nächsten Entscheidung ohne nähere Analyse zurückzuweisen. Laut ByteDance sei daher der Gleichheitsgrundsatz durch die Kommission verletzt.
Ob ByteDance mit seinen Rechtsmitteln Erfolg haben wird, bleibt abzuwarten. Die Regelungen im DMA werfen schwierige Rechtsfragen auf, insbesondere im Hinblick auf die Berücksichtigungsfähigkeit qualitativer Nachweise.
Ob des existierenden Klärungsbedarfs vor den Gerichten wird aber auch deutlich, dass der DMA an seinem Ziel, tatsächlich eine Beschleunigung der Verfahren herbeizuführen, scheitern könnte. In eine ähnliche Richtung hat sich bereits der Präsident des EuG, Marc van der Woude, vor Inkrafttreten des DMA geäußert, der mit zahlreichen Klagen rechnete und mahnte, dass das Verfahrensrecht der Europäischen Gerichte nicht auf schnelle Entscheidungen ausgelegt sei.
Dr. Daniel Higer ist Associate bei Hengeler Mueller und berät in allen Bereichen des europäischen und deutschen Kartellrechts, insbesondere bei M&A-Projekten.