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In Mexiko soll das Volk die Richterschaft wählen

Mexikos scheidender Präsident López Obrador und seine Nachfolgerin Claudia Sheinbaum arbeiten an der Umsetzung einer Justizreform im Rahmen eines großen Verfassungsrevirements. Hauptgegenstand der Reform ist die künftige Wahl aller Richterinnen und Richter der Bundesgerichtsbarkeit durch das Volk. Kritiker sehen den Versuch, die Gewaltenteilung zu schwächen. Von Klaus Ehringfeld
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Anfang Juni gewann in Mexiko die regierende linksnationalistische Morena-Partei erdrutschartig die Präsidentschafts- und Parlamentswahl. Claudia Sheinbaum wurde mit überwältigender Mehrheit zur Nachfolgerin des noch bis Anfang Oktober amtierenden Staatschefs Andrés Manuel López Obrador bestimmt. Aber auch in der Abgeordnetenkammer verfügt die Bewegung der Nationalen Erneuerung (Morena) künftig über eine qualifizierte Mehrheit. Nur wenige Stimmen fehlen dafür im Senat. Das neue Parlament tritt bereits am 1. September zusammen. Und in diesen 30 Tagen, die López Obrador dann noch im Amt verbleibt, will er unbedingt seine 20 Verfassungsreformen umsetzen lassen, die ihm im bisherigen Kongress mangels Mehrheiten verwehrt blieben.  Herzstück des Verfassungsumbaus ist die geplante Justizreform. Diese sieht im Wesentlichen die Restrukturierung und Verkleinerung des Obersten Gerichts (Suprema Corte de Justicia de la Nación, SCJN) vor. Zudem werden die SCJN-Richter, die Bundeswahl-, Bezirks(Circuito)- und Distrikt(Distritio)-Richter künftig durch das Volk gewählt. Das heißt: Es müssten nach den Plänen des Präsidenten rund 1600 Richterstellen auf Ebene der Bundesgerichtsbarkeit neu besetzt werden. Ihre Arbeit aufnehmen soll die neue Judikative im September 2025. Weiteres zentrales Element der Reform: Der Nationale Justizrat (Consejo de Judicatura Federal, CJF) wird abgeschafft und durch Disziplinargerichte ersetzt. Der CJF ist eine Art Justizverwaltungsbehörde und bisher vor allem verantwortlich für die Berufung und Kontrolle von Richterinnen und Richtern.

„Das Justizwesen ist verrottet“ – so begründet López Obrador sein Reformvorhaben. Bestechlichkeit von Staatsanwälten und Richtern ist tatsächlich ein Problem. Die Korruption ist in Mexiko jedoch in allen Bereichen der staatlichen Verwaltung täglich Brot. Zudem stellt sich die Frage: Warum sollten vom Volk gewählte Richter weniger korrupt sein? Und ist nicht viel mehr die Einflussnahme durch das Organisierte Verbrechen, durch politische Akteure oder wirtschaftliche Gruppen bei solchen Wahlen eine viel größere Gefahr? Kritiker werfen López Obrador vor, dass es ihm mit der Reform in erster Linie um eine stärkere politische Kontrolle der Judikative gehe. Für den Präsidenten ist die Justiz tatsächlich Teil der von ihm bekämpften „neoliberalen und korrupten Eliten“. Sie dominieren in seiner Lesart Politik und Wirtschaft und missbrauchen das Rechtswesen als Instrument zur Durchsetzung ihrer Interessen. Die Neugestaltung des Sektors sei daher notwendiger Teil eines gesellschaftlich-ideologischen Umbauvorhabens. Juristen bemängeln, die Reform schaffe in erster Linie „große Rechtsunsicherheit“. Andere Experten weisen darauf hin, dass das Projekt sein Ziel verfehle. Fundamentale Probleme und strukturelle Versäumnisse des bisherigen Rechtswesens würden durch die geplante Neuschöpfung nicht gelöst. Tatsächlich ist eines der Hauptprobleme der fehlende Zugang zur Justiz für weite Teile der Bevölkerung. Zudem werde die skandalöse Straflosigkeit nicht in den Blick genommen. In Mexiko bleiben rund 95 Prozent aller Gewaltdelikte ungeahndet. Das heißt: Auf einem gerade in Mexiko enorm wichtigen Feld wie der Ahndung von Morden, Entführungen und Verschwindenlassen von Menschen fällt die Justiz praktisch vollständig aus. Aber die Kritik an der Reform kommt von vielen Seiten. So fürchten Investoren beispielsweise einen Verlust von Rechtssicherheit und eine neue Einparteien-Herrschaft durch die allumfassende Morena-Dominanz und den nun geplanten Großumbau der Verfassung. Das Reformprojekt enthält starke Elemente einer direkten Demokratie und hat in der Welt nur wenige Beispiele. In Bolivien wurde ein fast identisches Richterwahlmodell in der Verfassung von 2009 festgeschrieben. In einer Mehrzahl der US-Bundesstaaten wird ein Teil der lokalen Justiz von der Bevölkerung gewählt, aber keine Bundesrichter und auch nicht die des Supreme Court. In Japan kann die Bevölkerung nominierte Richterinnen und Richter ablehnen. Aber in ihrer Komplexität und Reichweite geht keine Neuordnung weiter als die in Mexiko geplante. Es ist für ein bedeutendes Land, wie es Mexiko als größtes spanischsprachiges Land der Welt und die zweitgrößte Volkswirtschaft Lateinamerikas ist, ein großes Wagnis. 

An dieser Stelle noch ein kurzer Blick auf die einzelnen Punkte der geplanten Umgestaltung. Im Rahmen der Restrukturierung des Obersten Gerichtshofs wird die Zahl der Richterinnen und Richter von elf auf neun reduziert und die Amtszeit von 15 auf maximal 14 Jahre begrenzt. Im Reformentwurf ist zudem vorgesehen, den scheidenden Richtern ihre Ruhestandsbezüge zu streichen. Die 30 Kandidaten für die künftige Suprema Corte werden mit einer Liste von jeweils zehn Bewerberinnen und Bewerbern zu gleichen Teilen von den drei Gewalten vorgeschlagen. Sie müssen ein Dienstalter von zehn Jahren aufweisen und dürfen nicht im öffentlichen Dienst tätig gewesen sein. Die Bewerber dürfen ähnlich wie Politiker für sich in den Medien Werbespots schalten. Diejenigen mit den meisten Stimmen erhalten die längste Amtszeit von 14 Jahren, die anderen jeweils 12 und 8 Jahre. Des Weiteren werden die beiden Senate für einerseits Zivil- und Strafsachen sowie Verwaltungs- und Arbeitssachen in einem einzigen Senat zusammengefasst. Wichtige zusätzliche Änderung: Dem Gericht wird die Befugnis genommen, Gesetze im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu stoppen, bis in der Hauptsache entschieden wurde. Das ist ein besonderes politisches Anliegen des scheidenden Präsidenten, denn die Suprema Corte bremste in den vergangenen Jahren viele umstrittene Gesetze von López Obrador aus. Die Wahl der Bezirks- und Distriktrichter wird künftig von der Wahlbehörde INE organisiert. Auch hier schlagen die drei Gewalten Listen mit Kandidatinnen und Kandidaten vor. Auch die einzelnen Bundesstaaten dürfen ihre eigenen Vorschläge für ihre Staaten machen. Die Amtszeit der neuen Richter beträgt neun Jahre, wobei die Möglichkeit der Wiederwahl besteht. Der Justizrat CJF wird in der gegenwärtigen Form abgeschafft und durch Disziplinargerichte ersetzt. Das neue Organ darf gegen Richter wegen des Verdachts der Korruption, Komplizenschaft oder Deckung von mutmaßlichen Straftätern ermitteln und Sanktionen verhängen. Beunruhigend ist, dass der neue CJF auch die Urteile der Richter überprüfen darf, ob sie „den Grundsätzen der Objektivität, Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Professionalität“ entsprechen. Zu den möglichen Sanktionen gehören Verweis, Suspendierung, Geldstrafe und Entlassung.

Zusammenfassend kritisiert das Menschenrechtszentrum CentroProdh: „Das ist nicht die Reform, die das mexikanische Justizsystem braucht.“ Das Problem der Straflosigkeit werde verkannt, das zudem oft auch den Staatsanwaltschaften anzulasten sei. Diese bleiben aber bei der Neuordnung unangetastet. Die demokratische Legitimität der Rechtsprechenden ergebe sich ferner nicht aus ihrer Wahl durch das Volk, sondern der Fähigkeit, effektiv die Rechte der Menschen zu schützen. Besorgniserregend sei zudem die politische Kontrolle, die über die Disziplinargerichte ausgeübt werden könne.

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Klaus Ehringfeld ist Jurist und Journalist. Er arbeitet seit mehr als 20 Jahren als Auslandskorrespondent für deutschsprachige Medien aus Lateinamerika.
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