Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 03.07.2008 das sogenannte „negative Stimmgewicht“ für verfassungswidrig erklärt und den Gesetzgeber verpflichtet, eine verfassungsgemäße Regelung spätestens bis zum 30.06.2011 herbeizuführen (Urteil des BVerfG, NVwZ 2008, 991).
Wie die Karlsruher Richter in ihrer Entscheidung urteilten, verstößt das Bundeswahlgesetz punktuell gegen die Verfassung, weil ”ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen kann“. Dieser paradoxe Effekt des sogenannten negativen Stimmgewichts trete im Zusammenhang mit Überhangmandaten auf, die Parteien erhalten, wenn sie in einem Land mehr Direktmandate erringen, als ihnen laut Zweitstimmenergebnis zusteht.
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP
Verzicht auf Möglichkeit der Listenverbindung
In Umsetzung des Regelungsauftrags des Bundesverfassungsgerichts zum negativen Stimmgewicht sieht der vorliegende Gesetzentwurf Änderungen des Bundeswahlgesetzes vor, die die Verfassungswidrigkeit des Effekts des negativen Stimmgewichts unter Beibehaltung des Wahlsystems der Personalisierten Verhältniswahl beseitigen, heißt es in der Gesetzesbegründung des Koalitionsentwurfs. Die Neuregelung gründe auf den Verzicht der bislang nach § 7 BWG vorgesehen Listenverbindung, den das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 03.07.2008 als eine von mehreren Lösungsmöglichkeiten bezeichnet hat, die dem Gesetzgeber zur Verfügung stehen. Die Abschaffung der Möglichkeit der Listenverbindung soll um eine Sitzverteilung auf der Grundlage von Sitzkontingenten der Länder ergänzt werden, die sich nach der Anzahl der Wähler in den Ländern bestimmen. Das Verfahren für die Verteilung der nach Landeslisten zu besetzenden Sitze bleibe damit zweistufig ausgestaltet. In einem ersten Schritt werde die Zahl der Sitze ermittelt, die von der Gesamtzahl der Sitze im Deutschen Bundestag auf jedes Land entfällt; in einem zweiten Schritt würden die auf ein Land entfallenden Sitze auf die dort zu berücksichtigenden Landeslisten verteilt. Erfolgswertunterschiede durch Rundungsunterschiede bei der Verteilung der Sitze in den 16 Sitzkontingenten sollen ausgeglichen, wenn die Stimmreste einer Partei bundesweit die Schwelle für die Vergabe eines Mandats überschreiten (§ 6 Abs. 2a BWG -neu-).
„Berliner Zweitstimmen“
Hinsichtlich der Problematik der „Berliner Zweitstimmen“ soll die Regelungslücke in § 6 Abs. 1 BWG beseitigt werden.
SPD-Fraktion
Effekt des negativen Stimmgewichts reduzieren
Der Entwurf der SPD-Fraktion sieht laut Gesetzesbegründung vor, künftig die Zahl der Abgeordneten falls erforderlich soweit anzupassen, dass Überhangmandate im Verhältnis der Parteien zueinander vollständig ausgeglichen werden. Die beanstandete Wirkung des negativen Stimmgewichts, nämlich einer Partei durch Stimmabgabe für sie im Verhältnis zu anderen Parteien zu schaden, soll durch die Ausgleichsmandate auf unvermeidliche Randeffekte der mathematischen Rundung zurückgedrängt werden. Der hauptsächliche Fall einer im Voraus berechenbaren Nutzung des negativen Stimmgewichts werde ausgeschlossen, indem es beim Wegfall eines Wahlkreisbewerbers keiner Nachwahl mehr bedarf.
Verringerung der Direktmandate
Der unerwünschten Vermehrung der Sitzzahl lasse sich entgegen wirken, indem der Anteil der Direktmandate an der Gesamtsitzzahl verringert wird. Dadurch lassen sich Überhang- und ihnen folgend Ausgleichsmandate weitgehend vermeiden. Wegen der dazu erforderlichen Vergrößerung der Wahlkreise solle eine entsprechende Gesetzesänderung nach den Erfahrungen mit der nächsten Bundestagswahl erfolgen.
Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN
Verhinderung von Überhangmandaten
Nach dem Gesetzentwurf der Fraktion DIE GRÜNEN soll die Verfassungswidrigkeit im Bundeswahlgesetz dadurch beseitigt werden, dass die Anrechnung der Direktmandate auf das Zweitstimmenergebnis bereits auf Bundesebene, auf der Ebene der sogenannten Oberzuteilung, und nicht – wie nach bislang geltendem Recht – auf Länderebene geschieht. Dadurch würden keine Überhangmandate mehr entstehen.
Verbesserung von Normenklarheit und Verständlichkeit
Der Gesetzentwurf will darüber das Wahlrecht in den zur Änderung anstehenden Teilen normenklarer und verständlicher machen. Die einzelnen mathematischen Rechenschritte zur Verteilung der Mandate würden in ihrer logischen Reihenfolge aufgeführt. Grundsätzliche Regelungen werden zu Beginn aufgenommen – so zum Beispiel die 5-Prozent-Hürde, die sich im Entwurf an zentraler Stelle in § 6 Absatz 2 befindet, derzeit jedoch in § 6 Absatz 6 BWahlG – also nach den Regelungen zur Verteilung der Zweitstimmenmandate – enthalten ist.
Fraktion DIE LINKE
Die Linksfraktion strebt mit ihren Gesetzesvorschlag eine umfassende Reform des Wahlrechts an.
Effekt des negativen Stimmgewichts vermindern
Um den Effekt des negativen Stimmgewichts zu reduzieren, sollen wesentliche Bestandteile des Gesetzentwurfs der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aufgegriffen und mit einer Regelung zu Ausgleichsmandaten auf der Ebene der Oberverteilung verbunden werden. Die Anrechnung von Direktmandaten auf das Zweitstimmenergebnis soll auf der Bundesebene (sogenannte Oberzuteilung) erfolgen. Soweit dennoch Überhangmandate entstehen, erfolge ein Ausgleich, der sich nach den auf Bundesebene erzielten Zweitstimmenanteilen richtet.
Erweiterung des Wahlrechts
Der Ausschluss der Menschen, die seit fünf Jahren legal in Deutschland wohnen, ohne die deutsche Staatsangehörigkeit zu besitzen, vom aktiven Wahlrecht soll aufgehoben werden. Das aktive Wahlrecht erhalte auch, wer das 16. Lebensjahr vollendet hat. Das aktive und passive Wahlrecht für Straftäterinnen und Straftäter soll ebenso wie ihre Fähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden, gewährleistet werden.
Zulassung von Parteien oder Landeslisten
Lehnt der Bundeswahlausschuss die Zulassung einer Partei oder einer Landesliste einer Partei in der Einspruchsverhandlung zur Bundestagswahl ab, soll ihr der Weg zum Bundesverfassungsgericht offen stehen. Dieses müsse rechtzeitig vor der Wahl über die Zulassung oder Nichtzulassung einer Partei oder einer abgelehnten Landesliste entscheiden.
Abschaffung der 5-Prozenthürde
Um eine Gleichwertigkeit jeder abgegebenen Stimme herzustellen, soll die 5-Prozenthürde abgeschafft werden.
Verbot von Wahlcomputern
Den schwerwiegenden Bedenken des Bundesverfassungsgerichts gegen den Einsatz von Wahlcomputern bei der Stimmabgabe soll dadurch Rechnung getragen werden, dass der Einsatz von Wahlcomputern bei der Stimmabgabe gesetzlich untersagt wird.
Barrierefreier Zugang zu Wahlräumen
Bei der Durchführung der Wahl soll ein barrierefreier Zugang zu allen Wahlräumen im Wahlgebiet am Wahltag gewährleistet werden müssen.
› zum Überblick über das Gesetzesvorhaben