Kritik am Abendessen mit und auf Kosten der Kanzlerin
Dass sich Mitglieder des BVerfG mit und auf Kosten der Bundeskanzlerin im Bundeskanzleramt zum gemeinsamen Abendessen getroffen haben, hat hohe Wellen geschlagen. Zunächst stand die Vorsitzende des Zweiten Senats, Doris König, in der Kritik. Sie hatte am gemeinsamen Dinner teilgenommen, obwohl sie kurze Zeit später mit über eine Klage der Bundes-AfD gegen Merkel zu entscheiden hatte. Die AfD hatte Merkel vorgeworfen, durch kritische Äußerungen nach der Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich unter anderem mit Stimmen der AfD zum Regierungschef in Thüringen gegen ihre Neutralitätspflicht als Staatsorgan verstoßen zu haben.
Vom gemeinsamen Brotbrechen zum Regelbruch?
Zuletzt berichtete die Zeitung "WELT am Sonntag", dass sich nunmehr auch der Gerichtspräsident und Vorsitzende des Ersten Senats, Stephan Harbarth, sowie Richterin Susanne Baer im Zusammenhang mit einem anderen Verfahren zur "Bundesnotbremse" gegen Befangenheitsvorwürfe verteidigen müssen. Wie die Zeitung berichtete, soll Harbarth wenige Wochen vor dem geplanten Abendessen in Berlin um eine Programmänderung gebeten haben. Er habe das Thema Corona zwar nicht explizit angesprochen, im Bundeskanzleramt habe man aber die Brisanz dieses Vorstoßes erkannt. Und dennoch sei die Corona-Politik das zentrale Thema des Abends gewesen – trotz der laufenden Verfahren vor dem BVerfG. Die Dokumente, die der "WELT" nach eigenen Angaben vorliegen, sollen belegen, dass Justizministerin Lambrecht (SPD) einen Vortrag über die polarisierenden Coronamaßnahmen der Bundesregierung gehalten und diese verteidigt habe. Sie soll von einem "Erkenntnisvakuum" gesprochen haben und der Notwendigkeit, der Pandemie trotz dieses Vakuums mit entsprechenden Maßnahmen entgegenzutreten. Sie freue sich über die Gelegenheit, so Lambrecht angeblich weiter, sich mit den anwesenden Richterinnen und Richtern über die jeweiligen Perspektiven auszutauschen.
BVerfG erwartet Stellungnahmen zu Ablehnungsgesuch
Der Berliner Rechtsanwalt Niko Härtling, der mehrere Klagen gegen die Coronamaßnahmen beim BVerfG eingereicht hat – darunter auch eine Verfassungsbeschwerde der "Freien Wähler" gegen die "Bundesnotbremse" – reichte daraufhin im Auftrag seiner Mandantschaft ein Ablehnungsgesuch gegen Harbarth und Baer ein, die beide sowohl über die Verfassungsbeschwerde richten sollen als auch an besagtem Abendessen teilgenommen hatten. Derzeit wartet das Gericht offenbar auf Stellungnahmen zu den Vorwürfen. Das soll aus einem Schreiben des Richters Henning Radtke hervorgehen, welches der "WELT" ebenfalls vorliegen soll. Radtke habe das Bundesinnenministerium, den Bundesrat sowie zwei Wissenschaftler und gleichzeitig Verfahrensbevollmächtigte der Bundesregierung aufgefordert, die Vorwürfe gegen Harbarth einzuordnen.
Ex-Landesverfassungsrichter hält Kritik für begründet
Michael Bertrams, ehemaliger Präsident des Verfassungsgerichtshofs Nordrhein-Westfalen, sprach auf der Seite des Kölner Stadt-Anzeigers "ksta.de" über die Vorfälle. Er halte das Ablehnungsgesuch für begründet, sagte er. Bei einem Befangenheitsantrag müsse die Befangenheit nicht tatsächlich nachgewiesen werden. Vielmehr reiche gemäß § 19 BVerfGG der "böse Schein", dass eine Richterin oder ein Richter in einem Verfahren befangen sei. Die besagten Gespräche im Bundeskanzleramt hätten allesamt hinter geschlossenen Türen stattgefunden. Dies sei Grund genug, bei den Freien Wählern die Besorgnis zu wecken, die Themen seien eben nicht nur abstrakt erörtert worden, mit dem Ergebnis, dass das Gericht über die anhängigen Verfassungsbeschwerden womöglich nicht mehr objektiv werde entscheiden können. Seiner Ansicht nach hätte das Gericht die Einladung zum Essen unabhängig von den besprochenen Themen schon nicht annehmen dürfen. Dieses Verhalten spreche für einen erschreckenden Mangel an richterlicher Zurückhaltung und Sensibilität.
BVerfG und Harbarth verteidigen sich gegen Vorwürfe
Das BVerfG selbst verteidigt das Dinner auf seiner Internetseite als eine "seit vielen Jahren bestehende Tradition". Den ersten Befangenheitsantrag gegen Mitglieder des Zweiten Senats hatte es mit der Begründung als unzulässig abgewiesen, dass das Verhältnis der obersten Verfassungsorgane – auch jenseits der eigentlichen Ausübung ihrer jeweiligen Kompetenzen – auf gegenseitige Achtung, Rücksichtnahme und Kooperation angelegt sei. Die regelmäßigen Treffen des BVerfG mit der Bundesregierung zum Gedanken- und Erfahrungsaustausch seien im Sinne eines "Dialogs der Staatsorgane" Ausdruck dieses Interorganrespekts. Dieser Argumentation hat sich Harbarth nun offenbar angeschlossen. Wie die "WELT" berichtete, halte auch er die besprochenen Themen für einen Gedanken- und Erfahrungsaustausch zwischen Verfassungsorganen. Sie beträfen abstrakte und zeitlose Fragestellungen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten auch in zahlreichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts niedergeschlagen hätten. Die Themen hätten sich ohne konkreten Bezug zu anhängigen Verfahren erörtern lassen.
Harbarth – gleichzeitig Parteimitglied und unabhängiger Richter?
Harbarth sah sich schon vor seiner Ernennung zum Gerichtspräsidenten Vorwürfen wegen fehlender Unabhängigkeit ausgesetzt. Er saß über mehrere Legislaturperioden für die CDU im Bundestag. Somit urteilt er nun in seiner Funktion als Richter auch über Gesetze, die er selbst mit auf den Weg gebracht hat. Harbarth selbst sieht keinen Konflikt mit seiner früheren Funktion als Vizechef der Unionsfraktion. "Der Gesetzgeber hat sich bewusst dafür entschieden, dass auch Politiker an das Bundesverfassungsgericht berufen werden können", sagte er der "Augsburger Allgemeinen" vor seiner Ernennung. Das Problem wurde bereits bei der Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des Verbots von Kinderehen akut. Harbarths Kollegen im Ersten Senat hatten im Dezember 2019 entschieden, dass ihr Vorsitzender über die Verfassungsmäßigkeit des 2017 beschlossenen Verbots von Kinderehen mitentscheiden kann. Harbarth hatte zwar angegeben, damals im Bundestag intensiv in die Vorbereitung und Verabschiedung eingebunden gewesen zu sein. Der Senat sah mehrheitlich trotzdem keinen Anlass, an seiner Unvoreingenommenheit zu zweifeln, denn Harbarth habe damals rein rechtspolitisch argumentiert. Ein weiterer Vorwurf gegen Harbarth lautet, dass er bis zu seiner Ernennung als Verfassungsrichter Partner in der Mannheimer Großkanzlei Schilling, Zutt & Anschütz war, die unter anderem den Volkwagen Konzern im Dieselskandal vertrat.