EuGH: Asylsuchender kann aus verspätetem Übernahmegesuch eines Mitgliedstaats Rechte für sich ableiten

Ein Asylsuchender kann sich vor Gericht darauf berufen, dass ein Mitgliedstaat infolge des Ablaufs der Frist von drei Monaten, binnen deren er einen anderen Mitgliedstaat um Aufnahme des Asylbewerbers ersuchen kann, für die Prüfung des Asylantrags zuständig geworden ist. Dies hat der Gerichtshof der Europäischen Union mit Urteil vom 26.07.2017 klargestellt. Die Frist beginne vor der Stellung eines "förmlichen" Asylantrags zu laufen, wenn der zuständigen Behörde ein Schriftstück zugegangen ist, das bestätige, dass eine Person um internationalen Schutz nachsuche, betonte der EuGH (Az.: C-670/16).

BAMF erhielt Bescheinigung über Meldung als Asylsuchender spätestens Mitte Januar 2016

Im Ausgangsverfahren beantragte Tsegezab Mengesteab, ein eritreischer Staatsangehöriger, am 14.09.2015 in München bei einer Behörde des Freistaats Bayern Asyl. Sie stellte ihm am selben Tag eine Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender aus. Spätestens am 14.01.2016 erhielt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) – das mit der Durchführung der Verpflichtungen betraut ist, die sich aus der Dublin-III-Verordnung zur Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats ergeben – das Original dieser Bescheinigung, eine Kopie davon oder zumindest die wichtigsten darin enthaltenen Informationen.

Aufnahmegesuch an italienische Behörden erst Mitte August 2016 gestellt

Am 22.07.2016 wurde Mengesteab vom Bundesamt angehört und konnte einen förmlichen Asylantrag stellen. Eine Abfrage des Eurodac-Systems ergab jedoch, dass in Italien die Fingerabdrücke von Mengesteab genommen worden waren. Im Allgemeinen beweise dies, dass die betreffende Person eine EU-Außengrenze illegal überschritten hat, was zur Folge haben könne, dass der Mitgliedstaat mit der fraglichen Außengrenze (hier Italien) für die Prüfung des Asylantrags zuständig ist, betonte der EuGH. Das Bundesamt habe daher am 19.08.2016 die italienischen Behörden ersucht, Mengesteab gemäß der Dublin-III-Verordnung aufzunehmen. Die italienischen Behörden hätten dieses Gesuch nicht beantwortet, was seiner Stattgabe gleichkomme.

BAMF ordnet Überstellung nach Italien an – Asylsuchender beruft sich auf Zuständigkeit Deutschlands

Mit Bescheid vom 10.11.2016 lehnte das Bundesamt daher den Asylantrag von Mengesteab ab und ordnete seine Überstellung nach Italien an. Mengesteab focht diesen Bescheid vor dem Verwaltungsgericht Minden (Deutschland) an. Er machte geltend, dass nach der Dublin-III-Verordnung die Zuständigkeit für die Prüfung seines Asylantrags auf Deutschland übergegangen sei. Die Verordnung sehe nämlich vor, dass das Aufnahmegesuch spätestens drei Monate nach der Stellung des Antrags auf internationalen Schutz unterbreitet werden muss und dass nach Ablauf dieser Frist die Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags auf den Mitgliedstaat übergehe, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde. Mengesteab meinte, das Bundesamt habe die italienischen Behörden erst nach Ablauf der Frist von drei Monaten ersucht, ihn aufzunehmen. In diesem Kontext ersuchte das VG den EuGH, die Dublin-III-Verordnung auszulegen.

EuGH: Asylsuchender kann sich auf Fristablauf berufen

Der EuGH entschied jetzt zum einen, dass sich eine Person, die internationalen Schutz beantragt, im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine ihr gegenüber ergangene Überstellungsentscheidung auf den Ablauf der fraglichen Frist von drei Monaten berufen kann, wobei dies auch dann gelte, wenn der ersuchte Mitgliedstaat bereit sei, diese Person aufzunehmen. Der Gerichtshof wies insoweit darauf hin, dass sich der Unionsgesetzgeber im Rahmen der Dublin-III-Verordnung nicht darauf beschränkt habe, organisatorische Regeln für die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten bei der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zu normieren, sondern sich dafür entschieden habe, die Asylbewerber an diesem Verfahren zu beteiligen, indem unter anderem gewährleistet wird, dass ihnen ein wirksamer Rechtsbehelf gegen jede ihnen gegenüber möglicherweise ergehende Überstellungsentscheidung zustehe.

Nach Ablauf der Dreimonatsfrist kein Aufnahmegesuch mehr

Zum anderen stellte der EuGH fest, dass es nicht möglich ist, ein Aufnahmegesuch mehr als drei Monate nach Stellung des Antrags auf internationalen Schutz wirksam zu unterbreiten. Die in der Dublin-III-Verordnung für ein solches Gesuch im Fall einer Eurodac-Treffermeldung vorgesehene Frist von zwei Monaten stelle keine zusätzliche, zu der Frist von drei Monaten hinzukommende Frist dar, sondern eine kürzere Frist, die dadurch gerechtfertigt sei, dass ein solcher Treffer den Beweis für ein illegales Überschreiten einer EU-Außengrenze darstelle und damit das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats vereinfache.

Definition des Antrags auf internationalen Schutz

Desweiteren gab der Gerichtshof in seinem Urteil eine materielle Definition des Antrags auf internationalen Schutz (dessen Stellung die Dreimonatsfrist auslöst). Ein Antrag auf internationalen Schutz gelte als gestellt, wenn der mit der Durchführung der sich aus der Dublin-III-Verordnung ergebenden Verpflichtungen betrauten Behörde ein Schriftstück zugegangen ist, das von einer Behörde erstellt wurde und bescheinigt, dass ein Staatsangehöriger eines Nicht-EU-Landes um internationalen Schutz ersucht hat, oder, gegebenenfalls, wenn ihr nur die wichtigsten in einem solchen Schriftstück enthaltenen Informationen (und nicht das Schriftstück selbst oder eine Kopie davon) zugegangen sind.

Schriftstück muss keine bestimmte Form aufweisen

Um das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats wirksam einleiten zu können, müsse die zuständige Behörde zuverlässig darüber informiert werden, dass ein Staatsangehöriger eines Nicht-EU-Landes um internationalen Schutz ersucht hat. Es sei jedoch nicht erforderlich, dass das zu diesem Zweck erstellte Schriftstück eine ganz bestimmte Form habe oder zusätzliche, für die Anwendung der in der Dublin-III-Verordnung festgelegten Kriterien oder gar für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz in der Sache relevante Informationen enthält. Es sei in diesem Verfahrensstadium auch nicht erforderlich, dass bereits ein persönliches Gespräch geführt wurde. Die Effektivität einiger wichtiger Garantien für Personen, die internationalen Schutz beantragen, würde eingeschränkt, wenn der Erhalt eines Schriftstücks wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender durch die zuständige Behörde (hier das Bundesamt) nicht ausreichen würde, um die Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz zu manifestieren. Zudem wäre eine solche Lösung geeignet, das Dublin-System erheblich zu beeinträchtigen, weil der besondere Status des ersten Mitgliedstaats, in dem ein Asylantrag gestellt wird, in Frage gestellt würde. Zudem sei die Übermittlung der wichtigsten in einem solchen Schriftstück enthaltenen Informationen an die zuständige Behörde als Übermittlung des Originals oder einer Kopie des Schriftstücks an diese Behörde anzusehen. Sie genüge daher als Beweis dafür, dass ein Antrag auf internationalen Schutz als gestellt gilt.

EuGH, Urteil vom 26.07.2017 - C-670/16

Redaktion beck-aktuell, 26. Juli 2017.