BVerfG: Verfassungsbeschwerden gegen Durchsuchung bei US-amerikanischer Rechtsanwaltskanzlei erfolglos

StPO §§ 97, 98 II 2, 103, 160a; GG Art. 2 I iVm 1 I, 12, 13 I, 14, 19 III, 20 III; BVerfGG § 32

1. Die Beschlagnahmefreiheit aus § 97 I StPO ist auf das Vertrauensverhältnis zwischen Berufsgeheimnisträger und dem konkret in einem Ermittlungsverfahren Beschuldigten beschränkt.

2. Eine beschuldigtenähnliche Stellung ist nicht bereits dann anzunehmen, wenn ein Unternehmen ein künftiges gegen sich gerichtetes Ermittlungsverfahren lediglich befürchtet und sich vor diesem Hintergrund anwaltlich beraten lässt oder eine unternehmensinterne Untersuchung in Auftrage gibt.

3. Eine US-amerikanische Rechtsanwaltskanzlei ist grundsätzlich keine inländische juristische Person iSd Art. 19 III GG. (Leitsätze der Verfasserin)

BVerfG, Beschluss vom 27.06.2018 - 2 BvR 1287/17, 2 BvR 1583/17, BeckRS 2018, 14188
BVerfG, Beschluss vom 27.06.2018 - 2 BvR 1562/17, BeckRS 2018, 14190
BVerfG, Beschluss vom 27.06.2018 - 2 BvR 1405/17, 2 BvR 1780/17, BeckRS 2018, 14189

Anmerkung von 
Rechtsanwältin Dr. Astrid Lilie-Hutz, Knierim & Kollegen Rechtsanwälte, Mainz

Aus beck-fachdienst Strafrecht 14/2018 vom 19.07.2018

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Sachverhalt

Die 3. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG hat in drei Beschlüssen die Verfassungsbeschwerden der VAG (1.), einer Kanzlei (2.) sowie dreier Rechtsanwälte dieser Kanzlei (3.) nicht zur Entscheidung angenommen. Anlässlich eines in den USA geführten Ermittlungsverfahrens wegen Abgasmanipulationen an Dieselfahrzeugen ist die Kanzlei von der VAG mit internen Ermittlungen, rechtlicher Beratung und der Vertretung gegenüber den US-amerikanischen Strafverfolgungsbehörden beauftragt worden. In 2017 haben sich die VAG und das U.S. Department of Justice im Rahmen eines sogenannten Plea Agreement auf die Zahlung eines Strafgeldes in Höhe von 2,8 Mrd. USD geeinigt. Die VAG hat sich schuldig bekannt, durch eine Tochterfirma in den USA Dieselfahrzeuge mit unzulässigen Abgaskontrollvorrichtungen vertrieben zu haben. Daraufhin hat die StA ein Ermittlungsverfahren wegen Betruges und strafbarer Werbung eingeleitet. Auf ihren Antrag hat das AG auf der Grundlage von § 103 StPO die Durchsuchung der Münchener Geschäftsräume der Kanzlei angeordnet. Die Durchsuchung sollte der Auffindung von Dokumenten dienen, die von der Kanzlei im Zuge ihrer internen Ermittlungen bei der VAG zusammengetragen oder erstellt worden sind. Das AG bestätigte dies. Die gegen die Durchsuchungsanordnung und die Bestätigung der Sicherstellung erhobenen Beschwerden waren erfolglos. Hiergegen wenden sich die VAG und die Kanzlei mit jeweils einer auf die Durchsuchungsanordnung und einer auf die Bestätigung der Sicherstellung bezogenen Verfassungsbeschwerde sowie drei Rechtsanwälte der Kanzlei mit einer gegen beide Maßnahmen gerichteten Verfassungsbeschwerde.

Rechtliche Würdigung

1. Verfassungsbeschwerden der VAG

Die Verfassungsbeschwerden werden nicht zur Entscheidung angenommen. Ihnen komme weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu noch sei ihre Annahme zur Durchsetzung der Rechte der Beschwerdeführerin angezeigt. Sie seien in Bezug auf den Durchsuchungsbeschluss und die darauffolgende Beschwerdeentscheidung unzulässig; im Übrigen seien sie jedenfalls unbegründet, da die Beschwerdeführerin weder in ihrem Recht auf informationelle Selbstbestimmung noch in ihrem Recht auf ein faires Verfahren verletzt sei. Zwar werde in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingegriffen, dieser Eingriff sei aber auf Grundlage der Vorschrift des § 110 StPO gerechtfertigt. Es sei nicht zu beanstanden, dass die Fachgerichte das Beschlagnahmeverbot der Norm des § 160a I 1 StPO nicht für anwendbar gehalten hätten. Darüber hinaus sei auch die Vorschrift des § 97 StPO in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise ausgelegt worden. Nur das Vertrauensverhältnis zwischen einem Berufsgeheimnisträger und dem im konkreten Ermittlungsverfahren Beschuldigten sei durch die Normen der §§ 97 I Nr. 1, 2 und 3 StPO geschützt. Weder in einer solchen Beschuldigtenstellung noch in einer beschuldigtenähnlichen Stellung habe sich die VAG befunden. Von Verfassungswegen sei es nicht geboten, eine beschuldigtenähnliche Stellung bereits dann anzunehmen, wenn ein Unternehmen ein künftiges gegen sich gerichtetes Ermittlungsverfahren lediglich befürchtet und sich vor diesem Hintergrund anwaltlich beraten lasse oder eine unternehmensinterne Untersuchung in Auftrage gebe. Der Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sei daher gerechtfertigt. Aus dem Recht auf ein faires Verfahren folge darüber hinaus kein weitergehender Schutz als durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren könne nur dann festgestellt werden, wenn sich im Einzelfall eindeutig ergebe, dass rechtsstaatlich unverzichtbare Erfordernisse nicht mehr gewährt wären. Dies sei hier nicht der Fall.

2. Verfassungsbeschwerden der Kanzlei

Die Verfassungsbeschwerden werden nicht zur Entscheidung angenommen. Ihnen komme ebenfalls weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu noch sei ihre Annahme zur Durchsetzung der Rechte der Beschwerdeführerin angezeigt. Sie seien mangels Beschwerdeberechtigung unzulässig. Die Beschwerdeführerin sei grundsätzlich nicht Trägerin von Grundrechten, da sie keine inländische juristische Person iSv Art. 19 III GG sei. Es könne aufgrund der Ausführungen der Beschwerdeführerin nicht davon ausgegangen werden, dass sich der Hauptverwaltungssitz in Deutschland bzw. einem Mitgliedstaat der EU befinde. Die Betroffenheit eines ihrer deutschen Kanzleistandorte von hoheitlichen Eingriffsmaßnahmen führe zudem nicht dazu, dass ihre Verfassungsbeschwerden wie die einer inländischen juristischen Person zu behandeln seien. Es sei nicht dargelegt worden, dass sie eine organisatorische eigenständige Stellung und einen inländischen Tätigkeitsmittelpunkt habe.

3. Verfassungsbeschwerde der Rechtsanwälte

Die Verfassungsbeschwerde wurde aus denselben Gründen nicht zur Entscheidung angenommen. Aus dem Vortrag der Beschwerdeführer ergebe sich nicht, dass sie durch die Durchsuchungsanordnung und die daraufhin ergangene Beschwerdeentscheidung in eigenen Grundrechten verletzt worden seien. Sie seien nicht aus Art. 13 I GG betroffen, da nur der Unternehmer als Nutzungsberechtigter hieraus betroffen sein könne. Die Nutzungsberechtigung stehe allen Partnern der Sozietät gemeinsam zu, sodass ein einzelner Partner – wie hier– dies nicht geltend machen könne. Daneben sei auch Art. 12 I GG mangels berufsregelnder Tendenz der strafprozessualen Maßnahme nicht betroffen. Ebenso wenig seien die Beschwerdeführer in ihrem Recht auf informationelle Selbstbestimmung sowie ihrem Recht auf ein faires Verfahren betroffen; insbesondere sei der gegenständliche Datenbestand der Kanzlei zuzuordnen und nicht den Beschwerdeführern selbst.

Praxishinweis

Durch die Entscheidungen des BVerfG wird das Anwaltsprivileg für internationale Kanzleien ausgehöhlt, soweit sie nicht über einen Verwaltungssitz in der EU verfügen. Besonders interessant dürfte diese Entscheidung daher auch für die Magic Circle Kanzleien sein, die ihren Sitz in London haben und damit bald nicht mehr Teil der EU sind. Sie werden ihre Organisationsstruktur dahingehend überprüfen müssen, ob sie nach der Rechtsprechung des BVerfG mit ihren deutschen Standorten noch als inländische juristische Person einzuordnen sind. Insbesondere für Mandanten bedeuten die Entscheidungen erhebliche Rechtsunsicherheit, da sie häufig nicht beurteilen werden können, ob eine internationale Kanzlei noch als inländisch iSd Art. 19 III GG anzusehen ist. Darüber hinaus wird das Berufsgeheimnis – auch für deutsche Anwälte – erheblich eingeschränkt, indem hinsichtlich der Beschwerdeberechtigung streng formell darauf abgestellt wird, ob das Mandat mit der Kanzlei oder dem Einzelanwalt zustande gekommen ist. Außerdem soll § 160a StPO im Falle von Beschlagnahmen durch die speziellere Norm des § 97 I StPO verdrängt werden. Abzuwarten bleibt, ob sich Unternehmen auch weiter an internationale Kanzleien wenden, wenn Internal Investigations beauftragt werden sollen.

Redaktion beck-aktuell, 20. Juli 2018.