BGH: Fehlerhafte Besetzung aufgrund Mitwirkung einer Richterin während des nachgeburtlichen Mutterschutzes

StPO §§ 111i, 222b, 226, 229, 338 Nr. 1, 354 II 2; MuSchG §§ 3, 6 I 1; HRiG § 2; HBG § 95 Nr. 1; HMuSchEltZVO § 1 I 1 Nr. 2; GG Art. 97 I, 101 I 2; GVG § 192 II

Der nachgeburtliche Mutterschutz einer Richterin führt zu einem Dienstleistungsverbot, das ihrer Mitwirkung in der Hauptverhandlung entgegensteht. Deren Fortsetzung ohne Beachtung der Mutterschutzfrist führt zur gesetzwidrigen Besetzung des erkennenden Gerichts. (Leitsatz des Gerichts)

BGH, Urteil vom 07.11.2016 - 2 StR 9/15, BeckRS 2016, 111685

Anmerkung von 
Rechtsanwältin Dr. Astrid Lilie-Hutz, Knierim & Krug Rechtsanwälte, Mainz

Aus beck-fachdienst Strafrecht 02/2017 vom 02.02.2017

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Sachverhalt

Die im Jahr 2012 vor der Strafkammer durchgeführte Hauptverhandlung hat im April 2014 geendet. Ein Ergänzungsrichter wurde nicht hinzugezogen. Die Berichterstatterin ist im Laufe der Hauptverhandlung schwanger geworden und hat zwischen den Hauptverhandlungsterminen am 20.12.13 und 3.1.14 entbunden. Die Hauptverhandlung ist an diesem Tag fortgesetzt und bis zum 31.1.14 unterbrochen worden. Fragen der Verteidigung danach, ob und wann die Richterin entbunden habe, sind nicht beantwortet worden. Die Verteidiger haben am 31.1.14 einen Besetzungseinwand erhoben, weil am 3.1.14 eine Richterin mitgewirkt habe, die kraft Gesetzes hiervon ausgeschlossen gewesen sei. Die Kammer hat den Einwand zurückgewiesen. Das LG hat die Angeklagten zu mehrjährigen Gesamtfreiheitsstrafen verurteilt, wogegen sie die Revisionen richten.

Rechtliche Würdigung

Die Revisionen haben Erfolg. Die Verfahrensrügen sind zulässig und begründet. Die Kammer sei falsch besetzt gewesen, weil die Berichterstatterin infolge des absoluten Dienstleistungsverbots aus § 6 I 1 MuSchG iVm § 2 HRiG, § 95 Nr. 1 HBG und § 1 I 1 Nr. 2 HMuSchEltZVO an der Mitwirkung in der Hauptverhandlung verhindert gewesen sei. Es stehe nicht im Belieben der von dem Dienstleistungsverbot betroffenen Richterin, ob sie in der Mutterschutzfrist an der Hauptverhandlung teilnehme oder den Mutterschutz in Anspruch nehme. Auch der Spruchkörper könne darüber nicht disponieren, da das absolute Dienstleistungsverbot zwingendes Recht sei. Dem stehe nicht entgegen, dass es der Richterin anheim gegeben sei, ihrem Dienstherrn die Tatsache der Schwangerschaft sowie der Entbindung bekannt zu geben. Die Schutzwirkung des § 6 MuSchG und das daraus folgende Beschäftigungsverbot setze allein Kenntnis des Arbeitgebers bzw. Dienstherrn voraus. Ihm sei eine Beschäftigung der Mutter auch dann untersagt, wenn diese einer Dienstleistung zustimme oder sie gar verlange. Das Gesetz wolle durch die zwingende Anordnung eines Dienstleistungsverbots einen Entscheidungsdruck von der Mutter nehmen, ob sie freiwillig überobligatorischen Einsatz zeigen oder den gesetzlichen Mutterschutz in Anspruch nehmen wolle. Der nachgeburtliche Mutterschutz komme einer Verhinderung wegen Dienstunfähigkeit gleich. Könne der Verhinderungsfall nicht durch Unterbrechung der Hauptverhandlung oder Eintritt eines Ergänzungsfalls überbrückt werden, sei das Gericht in der Hauptverhandlung, für die das Gebot der Kontinuität des Quorums und Anwesenheit der für das Urteil zuständigen Richter gem. § 226 StPO gelte, nicht vorschriftsgemäß besetzt. Es sei von einer Verhinderung an der weiteren Mitwirkung in der Hauptverhandlung auszugehen gewesen. Da diese Folge auf einer gesetzlichen Regelung beruhe, sei zugleich in den Schutzbereich des Art. 101 I 2 GG eingegriffen worden. Hiervon seien die Angeklagten in ihrem Rechtskreis betroffen. Der Schutzzweck des MuSchG, der der Gesundheit von Mutter und Kind gelte, ändere nichts an diesen prozessualen Folgen des Dienstleistungsverbots. Ebenso wenig könne aus der Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in welcher Frauen heute häufiger als zum Zeitpunkt des Gesetzeserlasses Tätigkeiten nachgingen, die eine Gesundheitsgefährdung nicht (mehr) ohne weiteres besorgen lassen, eine Einschränkung des zwingenden Gesetzesbefehls hergeleitet werden. Dasselbe gelte für den Umstand, dass auf freiberuflich tätigen Frauen – also etwa Rechtsanwältinnen in demselben Strafverfahren – die Vorschriften des MuSchG gar nicht anwendbar seien. Nach dem Gesetzlichkeitsprinzip aus Art. 101 I 2 GG dürfe es angesichts der zwingenden gesetzlichen Regelung nicht vom Willen der Mutter abhängen, ob sie weiter arbeite oder das Dienstleistungsverbot befolge. Andernfalls wäre der Eintritt eines Ergänzungsrichters von der willkürlichen der Bereitschaft der Richterin zum überobligationsmäßigen Einsatz abhängig. Das wäre mit dem Gebot der Bestimmtheit der gesetzlichen Mitwirkungszuständigkeit gem. Art. 101 I 2 GG unvereinbar. Auch habe kein Richter aufgrund von Art. 97 I GG Anspruch darauf, an einer Sachentscheidung durch Strafurteil mitzuwirken, wenn er durch zwingende gesetzliche Vorschriften an der Mitwirkung verhindert sei. Durch Art. 97 I GG werde allein die sachliche Unabhängigkeit des Richters im Fall der Begründung seiner Entscheidungszuständigkeit gewährleistet, nicht aber eine Unabhängigkeit dahin, über die Entscheidungszuständigkeit selbst zu disponieren. Art. 101 I 2 GG stehe auch der Möglichkeit entgegen, die Besetzungsfrage im Rahmen einer Interessenabwägung von den Umständen des Einzelfalls, etwa dem Umfang und der Eilbedürftigkeit der Sache abhängig zu machen. Der Strafkammer habe hinsichtlich der auch von Amts wegen durchzuführenden Prüfung der Richtigkeit der Besetzung wegen des absoluten Dienstleistungsverbots für die Berichterstatterin, das im Gegensatz zu Fällen eines relativen Dienstleistungshindernisses vor der Geburt nach § 3 MuSchG auch nicht von einer medizinischen Prognose abhängig sei, insoweit kein Ermessen zugestanden. Da das Dienstleistungsverbot nach der Entbindung unmittelbar kraft Gesetzes entstehe, komme es auf den für Gerichtsentscheidungen über Mitwirkungszuständigkeiten geltenden Willkürmaßstab aus Art. 101 I 2 GG nicht an. Das Urteil beruhe nach der gesetzlichen Vermutung auf dem Besetzungsfehler.

Praxishinweis

Nach dieser Entscheidung des BGH ist eine Diskussion darüber entstanden, ob der Mutterschutz als Krankheit iSd § 229 III StPO ausgelegt werden und daher eine Hauptverhandlung sechs Wochen gehemmt sein kann. Die Zeitspanne wäre aber ohnehin zu kurz, da § 6 I MuSchG ein Beschäftigungsverbot von mindestens acht Wochen (Ausnahmen, wenn besondere Umstände vorliegen) vorsieht. Sollten Strafkammern bei Richterinnen im gebärfähigen Alter daher grundsätzlich einen Ergänzungsrichter/in benennen? Was passiert, wenn die Ergänzungsrichterin ebenfalls schwanger wird; wäre das personell überhaupt umsetzbar? Sinn und Zweck des § 229 III StPO ist, zu verhindern, dass die Hauptverhandlung ausgesetzt und wiederholt werden muss, weil entweder der Angeklagte oder eine zur Urteilsfindung berufene Person für einen Zeitraum von bis zu sechs Wochen ausfällt. Wenn die Schwangerschaft – richtigerweise – nicht als Krankheit iSd § 229 III StPO auszulegen ist, darf eine schwangere Frau dennoch nicht schlechter gestellt werden, als eine kranke Person. Aufgrund der im Gesetz fehlenden Regelung drängt sich aber der Eindruck auf, dass Frauen im gebärfähigen Alter für Umfangsverfahren ungeeignet sind, weil der Mutterschutz nach jetziger Gesetzeslage keine Unterbrechung rechtfertigen kann. Diese Benachteiligung könnte verhindert werden, wenn für den Fall der Schwangerschaft einer Richterin die Frist – de lege ferenda – auf 8 Wochen erhöht würde. Ein möglicher Konflikt für die Angestellte würde sich dann „nur“ auf die Frage Elternzeit oder Aussetzung des Verfahrens beschränken. Im Übrigen muss nach Auffassung des Gesetzgebers eine selbstständige Verteidigerin auch nicht vor dem Konflikt, ob sie sich um ihr Kind oder ihre Kanzlei kümmern möchte, geschützt werden, sodass der Konflikt Elternzeit oder Aussetzung des Verfahrens noch zumutbar sein sollte.

Redaktion beck-aktuell, 6. Februar 2017.