AG Essen: Flüchtlingsberatungsstelle der freien Wohlfahrtspflege andere Hilfsmöglichkeit für Asylbewerber

BerHG § 1 I Nr. 2

1. Ob einem Asylbewerber die Inanspruchnahme der Beratung durch die Ausländerbehörde als andere Hilfsmöglichkeit zuzumuten ist, erscheint fraglich.

2. Die Flüchtlingsberatungsstellen der freien Wohlfahrtspflege und die Beratungsstellen im Rahmen eines städtischen Betreuungskonzeptes können eine andere Hilfsmöglichkeit im Sinne von § 1 I Nr. 2 BerHG darstellen. (Leitsätze des Gerichts)

AG Essen, Beschluss vom 29.05.2017 - 141 II 3309/16, BeckRS 2017, 111907

Anmerkung von
Rechtsanwalt Dr. Hans-Jochem Mayer, Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Fachanwalt für Arbeitsrecht, Bühl

Aus beck-fachdienst Vergütungs- und Kostenrecht 12/2017 vom 14.06.2017

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Sachverhalt

Der Antragsteller, ein minderjähriger Asylsuchender, beantragte Beratungshilfe. Die Rechtspflegerin wies den Antrag zurück mit der Begründung, der Bewilligung der Beratungshilfe zugunsten des Antragstellers stehe entgegen, dass ihm eine andere Möglichkeit für eine Hilfe zur Verfügung stehe, deren Inanspruchnahme ihm auch zuzumuten ist, § 1 I Nr. 2 BerHG. Die Erinnerung des Antragstellers gegen den Beschluss der Rechtspflegerin hatte vor dem AG Essen keinen Erfolg.

Rechtliche Wertung

In der amtsgerichtlichen Rspr. habe sich die Auffassung durchgesetzt, dass der Rechtsuchende vor Beantragung der Beratungshilfe zunächst die Möglichkeit der Beratung bei der zuständigen Behörde zu suchen habe. Diese sei auch gem. § 25 VwVfG zur Beratung verpflichtet. Denn Beratungshilfe sei nur dort zu gewähren, wo juristischer Rat in Form von anwaltlicher Beratung unumgänglich sei.

Der Antragssteller werde damit auch nicht rechtlos gestellt. Das BVerfG habe bereits mehrmals entschieden, dass der Verweis des Rechtsuchenden auf eine vorrangige Behördenauskunft rechtlich gut vertretbar sei. Dabei habe das BVerfG im Hinblick auf das im Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 I GG verankerte Willkürverbot ausdrücklich darauf abgestellt, dass der Verweis des Rechtsuchenden auf anderweitige Beratungsmöglichkeiten gem. § 1 I Nr. 2 BerHG dann verfassungsrechtlich unbedenklich sei, wenn eine Einzelfallabwägung vorgenommen werde. Von diesen Grundsätzen sei auch die Rechtspflegerin in ihrer Entscheidung ausgegangen. Beratungshilfe sei kein Instrument der allgemeinen Lebenshilfe, welches dazu diene, Sprach- und Kommunikationsschwierigkeiten zu beseitigen. Vielmehr sei Beratungshilfe zu gewähren, wenn der Schwerpunkt der Beratung auf der Beantwortung juristischer Fragen liege. Dies sei auch schon bei der beabsichtigten Beantragung von Asyl der Fall. Insoweit seien nämlich die Besonderheiten des Asylrechtes zu beachten, welches auf Grund der kaum zu überschauenden Rechtsprechung und der vom Europarecht überlagerten Bestimmungen eine Komplexität erreicht habe, dass jedenfalls einem juristischen Laien nicht möglich ist zu erkennen, welches Vorgehen seinen Interessen am besten zu dienen geeignet erscheine.

Ob nunmehr – trotz der außerordentlichen komplexen Rechtslage und der für den Betroffenen hinzukommenden existentiellen Bedeutung – Beratungshilfe generell gem. § 1 I Nr. 2 BerHG mit der Begründung verweigert werden könne, dass sich der Betroffene an die zuständige Ausländerbehörde wenden könne, sei in der Rspr. und Lit. umstritten. Dies werde teilweise bejaht, da auch die Ausländerbehörden gem. § 25 VwVfG zur Beratung verpflichtet seien. Die andere Auffassung lehne es ab, da sie die Inanspruchnahme der zuständigen Ausländerbehörde als unzumutbar betrachte.

Das Gericht neige zwar dazu, sich der zuletzt genannten Auffassung anzuschließen. Im Ergebnis könne dies dahinstehen. Denn der Antragssteller verkenne, dass auch die Flüchtlingsberatungsstellen der Wohlfahrtsverbände, Caritas und Diakonie Werk, und die Beratungsstellen im Rahmen des Betreuungskonzeptes der Stadt Essen in den Übergangsheimen Asylverfahrensberatung anböten und dass diese jedenfalls für erwachsene Asylsuchende eine andere zumutbare Hilfsmöglichkeit darstellten. Im Rahmen dieses Konzeptes erfolge die „Flüchtlingsberatung durch Diplom-Sozialarbeiterinnen und Diplom-Sozialarbeiter, die je nach Bedarf in Abhängigkeit von der Größe der Einrichtung und der Problemlage regelmäßig in jeder Einrichtung anwesend seien. Die Beratung umfasse ua die Asylverfahrensberatung, soziale Beratung, die Vermittlung bei Konflikten im Wohnumfeld sowie die Betreuung der in Wohnungen lebenden Flüchtlinge." Hierbei sei zu beachten, dass die konkrete Beratungsleistung durch die Verbände der freien Wohlfahrtspflege erfolge. Diese seien offensichtlich auch nicht für die spätere Bescheidung des Asylantrages zuständig. Zudem ergebe sich aus dem o.g. Konzept, dass die Beratung durch Diplom-Sozialarbeiterinnen und Diplom-Sozialarbeiter mit einschlägiger Berufserfahrung angeboten werde, sodass dass auch diese Stellen als geeignete andere Beratungsmöglichkeiten anzusehen seien.

Auch der Umstand, dass der Antragssteller vorliegend noch minderjährig sei, führe zu keiner anderen Bewertung. Vielmehr erscheine die Beratung eines minderjährigen Asylsuchenden durch Flüchtlingsberatungsstellen, welche ihre Leistungen durch Diplom-Sozialarbeiterinnen und Diplom-Sozialarbeiter erbringen, besonders geeignet, auf die Problemlagen einzugehen, welche sich aus der Flucht eines Minderjährigen ergeben. Ob im Anschluss daran auch noch eine anwaltliche Beratung erforderlich sein könne, erscheine dem Gericht zwar nicht ausgeschlossen, sei vorliegend jedoch nicht zu entscheiden, da der Antragssteller die ihm zumutbaren anderen Hilfsmöglichkeiten schon nicht in Anspruch genommen habe.

Praxistipp

Ob die Beratung und Auskunft der Ausländerbehörde für die Stellung eines Asylantrags als der Beratungshilfe gleichwertige Alternative der Rechtsberatung anzusehen ist, ist umstritten (Dürbeck in Dürbeck/Gottschalk, Prozess- und Verfahrenskostenhilfe, Beratungshilfe, 8. Aufl. 2016, Rn. 1163). Das AG Essen neigt – zu Recht – der ablehnenden Auffassung zu, sieht aber in den Flüchtlingsberatungsstellen der freien Wohlfahrtspflege und Beratungsstellen im Rahmen des städtischen Betreuungskonzeptes eine andere Hilfsmöglichkeit nach § 1 I Nr. 2 BerHG. Es sind jedoch Zweifel angebracht, ob dies ausreichend ist. Entscheidend dürfte sein, ob der Asylbewerber nach seiner Situation und individuellen Fähigkeiten durch Inanspruchnahme der Flüchtlingsberatungsstellen und sonstigen Beratungsstellen in der Lage ist, der Behörde den Sachverhalt so vorzutragen, dass eine sachgerechte Antragstellung möglich ist. Vielfach dürfte nicht nur die Beratung, sondern auch die Vertretung durch einen Anwalt als erforderlich anzusehen sein (vgl. Dürbeck in Dürbeck/Gottschalk, Prozess- und Verfahrenskostenhilfe, Beratungshilfe, 8. Aufl. 2016, Rn. 1163).

Redaktion beck-aktuell, 20. Juni 2017.