OLG Hamburg: Erbrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten der Zuwendung von Einzelgegenständen an mehrere Empfänger nacheinander («gegenständlich beschränkte Nacherbfolge»)

BGB §§ 1931, 2084, 2087, 2100, 2110, 2353, 2363; FamFG § 58

1. Durch Zuwendungen über Einzelgegenstände im Gesamtwert von ca. 3/4 des Nachlasses verfügt der Erblasser nicht über sein praktisch gesamtes Vermögen, so dass die Zweifelsregelung des § 2087 Abs. 2 BGB, wonach mit der Zuwendung von Einzelgegenständen im Zweifel keine Erbeinsetzung verbunden ist, nicht ausgeräumt ist.

2. Will der Erblasser einen bestimmten Vermögensgegenstand zunächst einer Person und nach deren Tod einer anderen Person zuwenden, kann dies entweder in Form von - teilweise aufschiebend bedingten - Vermächtnissen oder aber im Rahmen der Anordnung einer Vor- und Nacherbschaft erfolgen. Trotz des Grundsatzes der Universalsukzession kann eine gegenständlich beschränkte Vor- und Nacherbschaft im Ergebnis dadurch erreicht werden, dass dem Vorerben alle übrigen Nachlassgegenstände mit Ausnahme desjenigen, der Gegenstand der Nacherbschaft werden soll, zugleich - endgültig - im Rahmen von Vorausvermächtnissen zugewiesen werden. Ob von Vermächtnissen oder einer Vor-/Nacherbschaft auszugehen ist, entscheidet sich danach, ob der Erblasser dinglich wirkende Verfügungsbeschränkungen der zunächst bedachten Person festlegen oder es - wie bei Vermächtnissen - bei bloß schuldrechtlichen Ansprüchen gegen diese Person bzw. deren Erben belassen wollte. (Leitsätze des Gerichts)

OLG Hamburg, Beschluss vom 06.10.2016 - 2 W 69/15, BeckRS 2016, 06250

Anmerkung von 
JR Dr. Wolfgang Litzenburger, Notar in Mainz
 
Aus beck-fachdienst Erbrecht 12/2016 vom 13.12.2016

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Sachverhalt

Die Erblasserin starb am 29.1.2015 und hinterließ zwei Testamente vom 29.8.2013 und vom 6.10.2014. Mit dem zuletzt genannten Testament hat die Erblasserin über einige, nicht aber über sämtliche bei ihrem Tod vorhandene Vermögensgegenstände letztwillig verfügt, die sich zur Zeit der Testamentserrichtung in ihrem Eigentum befanden. Unerwähnt geblieben sind eine Ferienwohnung im Schwarzwald sowie Anlagen bei der Union Investment Service Bank AG.

Die Ehe der Erblasserin mit dem Beteiligten zu 1) blieb kinderlos. Vorverstorben waren sowohl ihre Eltern und Großeltern als auch ihre einzige Schwester, und zwar ohne Hinterlassung von Abkömmlingen. Die Beteiligte zu 2) ist eine entfernte Verwandte der Erblasserin (die Großmutter der Beteiligten zu 2) und die Mutter der Erblasserin waren Cousinen).

Der Beteiligte zu 1) ist der Ansicht, er sei alleiniger gesetzlicher Erbe seines verstorbenen Ehefrau geworden, weil das Testament vom 29.8.2013 durch das am 6.10.2014 errichtete widerrufen worden sei, aber keine Erbeinsetzung, sondern nur einzelne Vermächtnisse enthalte. Weder sei die Beteiligte zu 2) Erbin, noch sei sie Nacherbin. Die Beteiligte zu 2) legt das Testament hingegen dahin aus, dass der Beteiligte zu 1) lediglich nicht befreiter Vorerbe geworden sei, die Beteiligte zu 2) Nacherbin.

Das Nachlassgericht hat den Erbscheinsantrag mit der Begründung zurückgewiesen, die Erblasserin habe gerade die gesetzliche Erbfolge ausschließen wollen, zumal sie auch kein Berliner Testament verfasst habe. Vielmehr machten die zugewandten Gegenstände den Großteil des Nachlasses aus. Wenn über jedenfalls 70 % des Nachlasses testiert werde, spreche dies gegen die Annahme bloßer Vermächtnisse.

Der Beteiligte zu 1) stützt seine Beschwerde darauf, dass die Erblasserin in dem Testament über zur Zeit der Testamentserrichtung nachweislich vorhandene Vermögenswerte in Höhe von mehr als einem Viertel des Nachlasses nicht verfügt habe. Die Erblasserin habe nach ihren lebzeitigen Äußerungen gerade keine Rechtsgemeinschaft zwischen den Beteiligten entstehen lassen wollen. Weder habe sie die Beteiligten als Miterben einsetzen wollen, noch insgesamt als Vor- und Nacherben. Die Regelung bezüglich des Anteils an der Immobilie in B. sei lediglich als Nachvermächtnis für die Beteiligte zu 2) anzusehen.

Rechtliche Wertung

Der Senat widerspricht dem Nachlassgericht, soweit dieses einer Verfügung über 70 % des Nachlasswertes den Willen der Erblasserin entnommen hat, das gesetzliche Erbrecht des Ehemannes ganz oder weitestgehend auszuschließen.

Mit dem Testament vom 6.10.2014 habe die Erblasserin nicht über sämtliche Vermögensgegenstände verfügt, die sich zur Zeit der Testamentserrichtung in ihrem Eigentum befanden. Der Senat lehnt eine Anwendung der Auslegungsregel in § 2087 Abs. 2 BGB ab, weil bei einem Wertverhältnis von 74 % zu 26 % nicht davon gesprochen werden könne, der Erblasser habe mit den Einzelzuwendungen „praktisch über sein gesamtes Vermögen verfügt“ oder mit den Einzelzuwendungen den Nachlass „erschöpft“ und somit Erbeinsetzungen im entsprechenden Wertverhältnis verfügt.

Nach Ansicht des Senats kommt der Beteiligte zu 1) damit zwar als Alleinerbe gemäß § 1931 Abs. 2 BGB in Betracht. Ein Erbschein, der ihn als Alleinerben ausweist, könne – so der Senat weiter - dennoch nicht erteilt werden, weil  die Auslegung des ersten Abschnitts des Testaments vom 6.10.2014 ergäbe, dass die Erblasserin teilweise Vor- und Nacherbschaft angeordnet habe, die in einem Erbschein angegeben werden müsse (§ 2363 BGB).

Der Senat versucht bei der Auslegung der Verfügung der Erblasserin die von ihr gegenständlich gedachte Zuwendung des hälftigen Anteils am Objekt B. an die Beteiligte zu 2) im Rahmen der möglichen erbrechtlichen Gestaltungsformen rechtlich zu verwirklichen (§ 2084 BGB).

Zwar scheide eine gegenständlich beschränkte Vor- und Nacherbfolge in den Grundstücksanteil aus, weil die Erbfolge in einzelne Nachlassgegenstände (Sondererbfolge) mit dem Grundsatz der Gesamtrechtsnachfolge unvereinbar und deshalb nur in gesetzlich besonders angeordneten Ausnahmefällen möglich sei. Um dem Willen der Erblasserin Rechnung zu tragen, seien aber mehrere rechtlich wirksame Wege denkbar (vgl. OLG Hamm, BeckRS 2015, 10080):

1. In Betracht komme die Anordnung eines aufschiebend bedingten Vermächtnisses, das auf Übertragung des Grundstücksanteils, also gegen den Beteiligten zu 1) im Falle des Verkaufs des Grundstücks bzw. gegen den Erben des Beteiligten zu 1) nach dessen Tod, gerichtet sei.

2. Denkbar sei ferner die Anordnung einer Vor- und Nacherbfolge. Dabei gäbe es wiederum zwei Möglichkeiten:

  • Zum einen könne der Erblasser Vor- und Nacherbschaft nur in Höhe einer bestimmten Quote am Nachlass anordnen. Dabei werde die Nacherbeneinsetzung auf einen Erbteil bzw. den Bruchteil eines Erbteils beschränkt, so dass der eingesetzte Erbe nur zu einem Teil des Nachlasses Vollerbe und im Übrigen Vorerbe wird (Kroll-Ludwigs, DNotZ 2015, 387 mit weiteren Nachweisen). Die Bestimmung der Bruchteile könnte dann vorliegend an dem Wertverhältnis der Vermögenswerte orientiert werden, die dem Beteiligten zu 1) einerseits als Vorerben, andererseits als Vollerben zugedacht sind.
  • Zum anderen könne eine „gegenständlich beschränkte Nacherbfolge“ auch dadurch erreicht werden, dass der Person, die zum Vorerben berufen wird, alle Nachlassgegenstände mit Ausnahme derjenigen, für die die Vor- und Nacherfolge gewollt ist, als Vorausvermächtnis zugewendet werde. Das Vorausvermächtnis unterliege als solches nicht der Nacherbfolge (vgl. §§ 2150, 2110 Abs. 2, 2174 BGB).

Für die abschließende Auslegung der letztwilligen Verfügung komme es – so der Senat - darauf an, ob die Erblasserin es bei einem schuldrechtlichen Anspruch der Beteiligten zu 2) belassen wollte, oder ob sie den Beteiligten zu 1) in der Verfügung über den Grundstücksanteil zugunsten der Beteiligten zu 2) binden wollte. Nur der Vorerbe wäre gehindert, das Grundstück einfach insgesamt zu verschenken (§ 2113 Abs. 2 BGB). Ein Vermächtnis ginge nach der hier von der Erblasserin getroffenen Regelung im Falle einer unentgeltlichen Veräußerung des Grundstücks also ins Leere (vgl. § 2169 Abs. 1 BGB).

Für das Bestreben der Erblasserin, die Beteiligte zu 2) im Hinblick auf den Grundstücksanteil B. durch eine Stellung als Nacherbin abzusichern, spreche, dass die Erblasserin gerade und nur in diesem Regelungszusammenhang die Begriffe wie „vererbe ich“  und “Erbschaft“ zugunsten der Beteiligten zu 2) benutzt habe. Im Zusammenhang mit dem Vermögen bei der PSD-Bank habe sie dagegen nur formuliert, dass  nach dem Tode der Schwester das noch vorhandene Vermögen je zur Hälfte an die Beteiligten „gehen“ solle. Im Zusammenhang mit dem aus dem Verkauf des Hauses in Barsinghausen gezogenen Erlös spreche sie ebenfalls von „übergehen“. Den Begriff „übergehen“ habe die Erblasserin auch in ihrem früheren Testament vom 29.8.2013 verwendet, während sie von den Kindern der Beteiligten zu 2) als „Nachfolge-Erben“ gesprochen habe. Nicht zuletzt weil der hälftige Grundstücksanteil B. den größten Einzelwert des Nachlasses darstelle, sei vom Willen der Erblasserin auszugehen, die Beteiligte zu 2) durch Anordnung einer Vor- und Nacherbenstellung besonders zu sichern. Dies werde besonders deutlich durch den Umstand, dass die Erblasserin den Verkauf des Hauses B. als einen der Nacherbfälle definiert habe.

Bei dieser Auslegung – so der Senat - könne der beantragte Erbschein, der den Beteiligten zu 1) als unbeschränkten alleinigen Vollerben ausweisen solle, nicht erteilt werden.

Praxishinweis

Die Entscheidung ist ein Musterbeispiel für eine gelungene Auslegung eines völlig verunglückten eigenhändigen Testaments, die sich am Prinzip der von § 2084 BGB vorgegebenen wohlwollenden Auslegung des Erblasserwillens orientiert.

Zustimmung verdient dabei zunächst die Feststellung des Gerichts, dass bei derartigen Vermögensverhältnissen die Auslegungsregel des § 2087 Abs. 2 BGB nicht zum Zuge kommen kann. Einzelzuwendungen können nur dann als Erbeinsetzung aufgefasst werden, wenn der Erblasser bei Errichtung der Verfügung davon ausgegangen ist, damit nahezu über sein gesamtes Vermögen zu verfügen. Eine genaue Prozentzahl kann der Rechtsprechung zwar nicht entnommen werden, doch zeigt eine Analyse der ergangenen Entscheidungen, dass der so zugewendete Wert mindestens 80 % des gesamten Vermögens ausschöpfen sollte (vgl. BGH, ZEV 2000, 195 [84 %]; BayObLG, Rpfleger 2000, 217 [88,5 %]; FamRZ 1999, 1392, 1394 [77 %]; OLG Celle, OLGR 2002, 246 [83 %]; MDR 2003, 89 [83 – 84 %]; vgl. auch BayObLG, ZEV 2004, 282, 283 betr. Hoferbe). Maßgebend sind die Wertvorstellungen des Erblassers bei Errichtung der Verfügung, nicht dagegen im Zeitpunkt des Erbfalls (Vgl. OLG Düsseldorf, BeckRS 2016, 18624 mit Anmerkung Litzenburger, FD-ErbR 2016, 382721).

Die Gegenstandsbezogenheit der letztwilligen Verfügungen im zuletzt errichteten Testament spricht gegen den Willen der Erblasserin, über ihr gesamtes Vermögen verfügen zu wollen. Vor allem die Anordnungen, die sich mit dem etwaigen rechtlichen Schicksal des Grundstücksanteils bei einem Verkauf beschäftigen, verhindern im vorliegenden Fall eine Auslegung als Gesamtvermögensverfügung im Sinne des § 2087 Abs. 2 BGB. Eines Hinweises auf die Wertrelation hätte es in der Begründung deshalb eigentlich nicht bedurft. Die Meinungen über diese Wertrelationszahlen führen im Ergebnis ohnehin nicht zu vernünftigen Ergebnissen, sondern verdecken eher das dahinter stehende Problem der ergänzenden Testamentsauslegung, der sich der Senat mit überzeugenden Argumenten gewidmet hat.

Uneingeschränkte Zustimmung verdient der Beschluss auch in seinem zweiten Teil, in dem der Senat mustergültig auf der Grundlage des in § 2084 BGB verankerten Prinzips der wohlwollenden Testamentsauslegung die Verfügungen der Erblasserin interpretiert. Ziel dieser wohlwollenden Auslegung ist die rechtlich zulässige Umsetzung dessen, was die Erblasserin wirklich gewollt hat. Bei mehreren Möglichkeiten ist diejenige zu wählen, die dem tatsächlich Gewollten am Nächsten kommt.

Mit guten Argumenten begreift der Senat das Testament als Einsetzung des Beteiligten zu 1) zum Vorerben und der Beteiligten zu 2) zur Nacherbin, verbunden mit einem Vorausvermächtnis i.S.d. §§ 2150, 2110 Abs. 2 BGB über den gesamten Nachlass mit Ausnahme des Grundstücksanteils B. Damit lässt sich - wirtschaftlich betrachtet – eine gegenständliche Nacherbfolge erreichen, die den Nacherben stärker schützt als die Anordnung eines Nachvermächtnisses. Ein solches Vorausvermächtnis (§ 2150 BGB) erhält der Vorerbe außerhalb und zusätzlich zu seinem Erbteil. Einem Vorerben im Wege des Vorausvermächtnis zugewendete Gegenstände unterliegen nicht den Beschränkungen der Nacherbfolge (§ 2110 Abs. 2 BGB) und sind beim Nacherbfall nicht an den Nacherben herauszugeben (§ 2130). Beim Vorausvermächtnis an den einzigen Vorerben handelt es sich folglich um ein dem deutschen Erbrecht sonst fremdes Vindikationslegat (Staudinger/Avenarius, BGB, § 2110, Rn. 7; vgl. BGH, NJW 1995, 58, 59; ferner Otte, NJW 1987, 3164).

Redaktion beck-aktuell, 19. Dezember 2016.