Ein 67-jähriger Däne fiel 2014 vom Dach und erlitt dabei unter anderem innere Blutungen. Er trug eine Patientenverfügung bei sich, die er zwei Jahre zuvor verfasst hatte. Danach lehnte er es als Zeuge Jehovas ab, Bluttransfusionen in jeglicher Form an sich vornehmen zu lassen, "selbst wenn die medizinischen Betreuer glauben, dass dies notwendig ist, um mein Leben zu erhalten". Während des Krankenhausaufenthalts konnte das Personal seinen aktuellen Willen darüber nicht mehr erfragen, weil er nicht mehr geschäftsfähig war. Nur seine Familie bekräftigte immer wieder, dass sein Wille als Zeuge Jehovas unumstößlich sei. Zunächst behandelte der Arzt den Mann deshalb nur mit blutbildenden Medikamenten. Im weiteren Verlauf aber sank der Hämoglobinwert so tief, dass er das Leben seines Patienten akut bedroht sah und deshalb doch einen Beutel Blut verabreichte. Einen Monat später starb der Mann trotzdem, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.
Seine Frau erhob erfolglos Beschwerde gegen das Krankenhaus, weil es entgegen dem Patientenwillen gehandelt habe. Anschließend erhob sie Klage gegen die dänische Patientensicherheitsbehörde und rügte die Verletzung der Art. 3, 8 und 9 der EMRK. Der Østre Landsret (Obergericht für Ost-Dänemark) gab ihr teilweise recht: Die nationalen Vorschriften, wonach der Patient im aktuellen Krankheitsverlauf eine informierte Entscheidung über die Ablehnung der Transfusion treffen müsse, bedeute, dass eine Person, die in einem bewusstlosen Zustand ins Krankenhaus eingeliefert wird, der Behandlung nicht widersprechen könne, egal wie eindeutig und gut dokumentiert ihre frühere Ablehnung von Blut sein möge. Der Højesteret, das oberste dänische Gericht, bestätigte hingegen, dass bei Lebensgefahr nur eine aktuelle Ablehnung die Transfusion ausschließe. Der EGMR (Entscheidung vom 05.11.2024 – 25636/22) sah darin keinen Verstoß gegen die Konvention.
Keine Verletzung des Rechts auf Privatleben und der Religionsausübung
Die Bluttransfusion ohne Einwilligung des Patienten, um sein Leben zu retten, steht nach Ansicht des Gerichtshofs im Einklang mit der EMRK. Die Straßburger Richterinnen und Richter betonten, dass der Patient grundsätzlich seine medizinische Behandlung selbst bestimmt, auch wenn die Entscheidung tödliche Folgen für ihn hat. Allerdings sei dieser Grundsatz nach Art. 8 Abs. 2 EMRK einschränkbar, weil den Staat unter anderem die Pflicht trifft, Leben zu erhalten. Daher sei die nationale Vorschrift, die eine aktuelle informierte Entscheidung des Patienten für die Ablehnung der Bluttransfusion verlangt, mit der Konvention vereinbar. Die Durchführung einer dringenden, lebensrettenden Behandlung ohne Einwilligung in diesen Fällen könne nicht als Missachtung seiner persönlichen Autonomie angesehen werden. Der dänische Gesetzgeber habe dem Risiko vorbeugen wollen, dass ein bewusstloser Patient aufgrund einer unzureichenden lebensnotwendigen Behandlung stirbt, in die er im Rahmen des aktuellen Krankheitsverlaufs eingewilligt hätte.
Der Gerichtshof nimmt auch auf Art. 9 des Übereinkommens von Oviedo Bezug. Danach sollen zuvor geäußerte Wünsche derjenigen, die aktuell nicht mehr in der Lage sind, ihren Willen kundzutun, berücksichtigt werden. Nach den Erläuterungen des Abkommens sei aber nicht beabsichtigt worden, dass den geäußerten Wünschen unter allen Umständen zu folgen sei. Vielmehr müsse geprüft werden, ob diese auch für die aktuelle Situation gelten sollen. Eine Patientenverfügung sei daher nicht unbedingt bindend.
Die Straßburger Richterinnen und Richter lehnten es auch ab, eine mittelbare Diskriminierung der Zeugen Jehovas in der nationalen Vorschrift zu sehen. Sie seien allerdings eher von dieser Regelung betroffen als andere Gruppen. Jedenfalls sei aber eine solche Diskriminierung gerechtfertigt, weil es das legitime Ziel "Schutz der Gesundheit" verfolge.