Politik ohne Respekt vor der Justiz? Fall Sami A. löst Debatte aus

Der Fall des rechtswidrig nach Tunesien abgeschobenen Islamisten Sami A. hat eine kontroverse Debatte über die Unabhängigkeit der Justiz ausgelöst. Die Präsidentin des Oberverwaltungsgerichts Münster, Ricarda Brandts, warf den Behörden vor, der Justiz Informationen bewusst vorenthalten zu haben, um eine rechtzeitige Entscheidung der Richter zu verhindern. Der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) warf dagegen den Richtern vor, sie hätten das Rechtsempfinden der Bevölkerung nicht ausreichend im Blick – und erntete harsche Kritik.

Brandts: Vertrauensverhältnis zwischen Gerichten und Behörden beschädigt

"Hier wurden offensichtlich die Grenzen des Rechtsstaates ausgetestet", sagte Brandts der Deutschen Presse-Agentur. Das bleibe nicht ohne Folgen. Bislang seien Gerichte und Behörden «grundsätzlich mit Respekt vor der Gewaltenteilung» vertrauensvoll miteinander umgegangen, sagte die Gerichtspräsidentin. Darauf könnten sich Richter nun nicht mehr in jedem Fall verlassen. Das Vertrauensverhältnis sei beschädigt. 

Reul: Rechtsempfinden der Bevölkerung nicht ausreichend berücksichtigt

Weiter angeheizt wurde die Diskussion vom nordrhein-westfälischen Innenminister Reul. Der "Rheinischen Post" (Ausgabe vom 16.08.2018) sagte er: "Die Unabhängigkeit von Gerichten ist ein hohes Gut. Aber Richter sollten immer auch im Blick haben, dass ihre Entscheidungen dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entsprechen." Er bezweifele, dass das im Fall Sami A. geschehen sei.

DAV und DRB von Reuls Aussage empört

Der Deutsche Anwaltverein reagierte empört. "Es ist Zeit, dass die staatlichen Behörden die Entscheidung des OVG vorbehaltlos anerkennen und nicht nachtreten", erklärte Präsident Ulrich Schellenberg am 16.08.2018. Reuls Aussage sei "höchst unangemessen". Auch den Deutschen Richterbund hat Innenminister Reul gegen sich aufgebracht. "Aus guten Gründen haben wir in der Bundesrepublik die Gewaltenteilung", sagte Richterbund-Chef Jens Gnisa. "Zu einer funktionierenden Demokratie gehört eine unabhängige Justiz. Es ist nicht zuträglich, wenn diese durch Aussagen eines Innenministers angegriffen wird."

Kutschaty: Reul hat "gestörtes Verhältnis zur Justiz und zum Rechtsstaat"

Der Oppositionsführer im NRW-Landtag, Thomas Kutschaty (SPD) attestierte Reul ein "gestörtes Verhältnis zur Justiz und zum Rechtsstaat". Im WDR5-Interview sagte der SPD-Fraktionschef: Die Arbeit der Justiz so zu diskreditieren, "das darf sich kein Mitglied der Landesregierung erlauben". Die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen im Landtag, Verena Schäffer, kritisierte auf Twitter, Reul trage "ganz maßgeblich zur Schwächung unseres Rechtsstaates bei".  

Kritik an Richtern auch vom Integrationsministerium

Kritik an den Richtern kam neben Reul auch aus dem für die Abschiebung von Sami A. zuständigen NRW-Integrationsministerium. "Das Gericht lässt uns ratlos zurück", teilte das Ministerium mit. "Wir bedauern, dass das Oberverwaltungsgericht sich mit der zentralen Frage, ob Sami A. in Tunesien Folter droht, inhaltlich nicht auseinandersetzt." Das OVG hingegen betonte, dies sei gar nicht Gegenstand des aktuellen Rechtsstreits gewesen.

Rücktritt Stamps gefordert

Erste Oppositionspolitiker fordern nun den Rücktritt Stamps. "Wir erwarten von jedem Bürger, dass er sich an die Entscheidungen der Gerichte hält. Herr Stamp möchte das nicht machen, täuscht ein Gericht, und dafür muss er jetzt die Konsequenzen übernehmen", sagte Kutschaty. Für die Grünen sagte deren Landesvorsitzende Mona Neubaur, Stamp habe öffentlich die Verantwortung übernommen. "Wir erwarten, dass er daraus Konsequenzen zieht und sein Amt zur Verfügung stellt."

Kubicki wirft Seehofer Versagen vor

FDP-Bundesvize Wolfgang Kubicki sprang seinem Parteifreund Stamp hingegen bei und betonte, die Schuld für die Probleme im Fall Sami A. liege bei den Bundesbehörden und bei Innenminister Horst Seehofer (CSU). Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) - und damit der Innenminister - habe es bis heute versäumt, die vom Verwaltungsgericht Gelsenkirchen geforderte Verbalnote herbeizuschaffen, "wonach garantiert wird, dass Sami A. in tunesischen Gefängnissen nicht gefoltert wird", sagte Kubicki der dpa.

Redaktion beck-aktuell, 16. August 2018 (dpa).