OLG Stuttgart: Kein rücksichtsloses Überholen bei Annahme von Augenblicksversagen

StGB § 315c I Nr. 2b; StVO § 41 I

Ist der Angeklagte aufgrund eines Augenblickversagens fälschlich von einem Streckenverlauf ausgegangen, der ein gefahrloses Überholen ermöglicht hätte, kann keine Rücksichtslosigkeit im Sinne von § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB angenommen werden. Dies hat das Oberlandesgericht Stuttgart entschieden.

OLG Stuttgart, Beschluss vom 08.08.2017 - 3 Rv 25 Ss 606/17 (AG Bad Saulgaul), BeckRS 2017, 123173

Anmerkung von
Rechtsanwalt Ottheinz Kääb, LL.M., Fachanwalt für Verkehrsrecht und für Versicherungsrecht,
Rechtsanwälte Kääb Bürner Kiener & Kollegen, München

Aus beck-fachdienst Straßenverkehrsrecht 19/2017 vom 28.09.2017

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Sachverhalt

Nach Strafbefehl und Einspruch wurde der Angeklagte wegen fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung verurteilt. Ihm wurde die Fahrerlaubnis entzogen und es wurde eine Sperrfrist von sieben Monaten ausgesprochen.

Folgendes war geschehen: Der Angeklagte war außerorts bei Dämmerung nach Passieren einer Strecke mit Geschwindigkeitsbegrenzung auf 80 km/h zu einem vor ihm fahrenden Fahrzeug aufgeschlossen. Er entschloss sich, dieses Fahrzeug, das mit etwa 90 km/h fuhr, zu überholen und nahm dabei an, vor ihm liege ein langes gerades Straßenstück. Tatsächlich folgte aber ein kurviger Verlauf mit eingeschränkter Sicht, der erkennbar ein gefahrloses Überholen nicht ermöglichte.

Während des Überholvorgangs kam dem Angeklagten ein Pkw entgegen. Der überholte und der entgegenkommende Fahrer erkannten die Gefährlichkeit der Situation. Alle Beteiligten – auch der Angeklagte – versuchten sodann auszuweichen, konnten aber eine Kollision nicht mehr verhindern. Bei dieser wurden der Angeklagte und der im Gegenverkehr entgegenkommende Fahrer verletzt und ihre beiden Fahrzeuge beschädigt.

Rechtliche Wertung

Der Angeklagte legte Rechtsmittel gegen seine Verurteilung ein. Der Tatbestand des § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB sei nicht erfüllt.

Das OLG hob das amtsgerichtliche Urteil auf und verwies das Verfahren zurück. Rücksichtslos im Sinn des § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB handle, wer sich bei vorsätzlicher oder bewusst fahrlässiger Begehungsweise über Pflichten hinwegsetze und darauf vertraue, dass es nicht zu einer Beeinträchtigung anderer Verkehrsteilnehmer kommen werde. Rücksichtslos handle ferner bei fahrlässig unbewusster Begehungsweise, wer sich aus Gleichgültigkeit nicht auf seine Pflichten besinne und Bedenken gegen seine Fahrweise erst gar nicht aufkommen lasse. Ob ein Verkehrsteilnehmer rücksichtslos gehandelt habe, sei unter besonderer Berücksichtigung des äußeren Tatgeschehens zu beurteilen.

Das Bewusstsein der Gefährlichkeit habe dem Angeklagten hier aber gefehlt, weil er von falschen objektiven Voraussetzungen ausgegangen sei. Diese Fehlvorstellung sei unter einem sogenannten «Augenblicksversagen» einzuordnen und verhindere die Verurteilung. Das Merkmal der Rücksichtslosigkeit verlange vielmehr eine üble Verkehrsgesinnung, eine geradezu unverständliche Nachlässigkeit. Eine lediglich auf menschlichem Versagen beruhende falsche Beurteilung der Verkehrslage - wie sie vorliegend das Amtsgericht festgestellt hat - genüge hingegen nicht.

Praxishinweis

Die Entscheidung ist für die Praktiker wesentlich. Der Tatbestand des § 315c StGB setzt in Absatz 2 voraus, dass grob verkehrswidrig und rücksichtslos gehandelt wird und dadurch eine konkrete Gefährdung für Leib oder Leben oder Sachen von bedeutendem Wert eintritt.

Die Vermengung objektiver Merkmale mit der subjektiven Tatseite begegnet häufig sehr erheblichen Schwierigkeiten. Es wird allzu leicht von dem äußeren Geschehnisablauf isoliert betrachtet auf den gesamten Tatbestand geschlossen. Der Strafsenat hat unter eingehender Berücksichtigung von Literatur und Rechtsprechung den Tatbestand umfassend durchleuchtet.

Redaktion beck-aktuell, 9. Oktober 2017.