OLG Stuttgart: Kein Ausschluss von Arglist wegen eingeschränkter intellektueller Kapazität

VVG §§ 1, 28 II und IV; BGB §§ 187 I, 286 I und II Nr. 3, 288 I 2, 242

Nach dem vorgehenden Urteil des Landgerichts Heilbronn hat die beklagte Kfz-Versicherung bei fehlender Belehrung gemäß § 28 Abs. 4 VVG den Beweis arglistigen Verhaltens des Versicherungsnehmers nicht geführt, wenn der Kläger zwar im Rahmen der Unfallregulierung nachweislich gegenüber Mitarbeitern der beklagten Versicherung über einen längeren Zeitraum unzutreffende Angaben tätigte, aber nach Auffassung des Gerichts fraglich erscheint, ob dem Kläger planvoll arglistiges Handeln intellektuell überhaupt möglich ist. Demgegenüber hat das Oberlandesgericht Stuttgart in der Berufungsinstanz das Vorliegen von Arglist aufgrund der nachhaltigen und beharrlichen Täuschung durch den Versicherungsnehmer ohne weiteres angenommen. Ein Mangel an intellektueller Kapazität lasse sich insbesondere aufgrund der Rahmenumstände des Erwerbs des Kfz sowie der Tatsache, dass der Versicherungsnehmer trotz Aufklärung des Sachverhalts weiter nach Ausflüchten suche, nicht nachweisen.

OLG Stuttgart, Urteil vom 01.12.2016 - 7 U 114/16 (LG Heilbronn), BeckRS 2016, 120187

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Dirk-Carsten Günther
BLD Bach Langheid Dallmayr Rechtsanwälte Partnerschaftsgesellschaft mbB, Köln

Aus beck-fachdienst Versicherungsrecht 13/2017 vom 29.06.2017

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Sachverhalt

Der Kläger nimmt die Beklagte auf Versicherungsleistungen im Rahmen einer Kfz-Kaskoversicherung infolge eines Unfalls vom 20.05.2015 in Anspruch.

Er meldete den Vorfall bei der Versicherung, die daraufhin mit der Leistungsprüfung begann. Anschließend veräußerte der Kläger das Fahrzeug, welches er selbst zu einem Kaufpreis von 61.000 EUR erworben hatte, zu einem Preis von 36.900 EUR.

Die Beklagte verweigerte mit Schreiben vom 04.09.2015 die Erstattung wegen einer Obliegenheitsverletzung des Klägers. Sie sei für den Schaden nicht deckungspflichtig, da der Beklagte durchgängig vorsätzlich oder sogar arglistig falsche Angaben bezüglich der für die Wertermittlung des Fahrzeugs bzw. die Berechnung der Entschädigungssumme relevanten Punkte gemacht habe. So habe der Beklagte im Lauf der Schadensbestimmung über einen Zeitraum von zwei Monaten über den von ihm entrichteten Kaufpreis, die Existenz eines schriftlichen Kaufvertrages, die Kenntnis von Vorschäden sowie die Person des Verkäufers wechselnde und unklare Äußerungen getroffen. So habe sich insbesondere aus dem am 27.08.2015 übersandten Kaufvertrag ergeben, dass der Kläger das Fahrzeug entgegen seiner ursprünglichen Äußerung zu einem Preis von 61.000 EUR statt für 78.500 EUR von einer Fa. GmbH statt von einer Privatperson erworben hatte und hierbei über einen Vorschaden, der eine Reparatur allein mit Ersatzteilen in Höhe von 25.000 EUR erforderlich gemacht hatte, informiert worden war.

Der Kläger widersprach diesen Behauptungen und berief sich auf eine fehlende Belehrung gemäß § 28 Abs. 4 VVG, weshalb ihm gegen die Beklagte ein Anspruch auf Zahlung von 21.600 EUR zustehe. Er habe zu keinem Zeitpunkt falsche Angaben gemacht. Vielmehr sei am Rande des Telefonats über den Verkehrswert gesprochen worden, für den er eine Größenordnung von etwa 78.000 EUR genannt habe.

Rechtliche Wertung

Das LG Heilbronn verurteilte die Beklagte in erster Instanz zur Zahlung von 21.600 EUR sowie der vorgerichtlichen Anwaltskosten des Klägers.

Eine Deckungspflicht der Beklagten ergebe sich gemäß § 1 VVG in Verbindung mit dem Kaskoversicherungsvertrag in Verbindung mit Ziff. A.2.1 und E.6.1 AKB. Zwar liege objektiv eine Obliegenheitsverletzung des Klägers durch die Täuschung der Beklagten über den Erwerbspreis des Fahrzeugs sowie die Existenz eines schriftlichen Kaufvertrages vor. Aufgrund der fehlenden Belehrung könne sich die Beklagte gemäß § 28 Abs. 4 VVG nach dem Grundsatz von Treu und Glauben jedoch nur im Fall einer Arglist auf die Leistungsfreiheit wegen Obliegenheitsverletzung gemäß § 28 Abs. 2 VVG berufen. Hierfür sei die Beklagte beweisfällig geblieben.

Das Gericht verwies auf die Tatsache, dass es keinen Erfahrungssatz gebe, wonach eine bewusst unrichtige Beantwortung einer vom Versicherer gestellten Frage stets nur in der Absicht erfolge, auf den Willen des Versicherers einzuwirken. Vielmehr habe der gesamte Vorgang den Eindruck erweckt, der Kläger sei mit der Geltendmachung des Schadens und der Korrespondenz mit der Versicherung überfordert gewesen und an die Grenze seiner geistigen Kapazität gestoßen, weshalb nicht von einem planvoll arglistigen Handeln ausgegangen werden könne. Hierfür spreche insbesondere die Tatsache, dass der Kläger durch die Vorlage des Kaufvertrages sein Schweigen zur Höhe brach und unbedarft den Sachverhalt aufklärte.

Diesem Ergebnis widersprach das OLG Stuttgart in der Berufungsinstanz. Der zuständige Senat wies die Klage als unbegründet ab. Zwar seien die Feststellungen des Erstgerichts hinsichtlich einer vorsätzlichen Obliegenheitsverletzung fehlerfrei getroffen. Der Kläger habe diese in der Absicht getätigt, den Versicherer über einen für den Verkehrswert wesentlichen Umstand im Unklaren zu lassen, um seiner Angst der zu niedrigen Schätzung des Wertes zu entgehen.

Jedoch sei dieses Verhalten für die Annahme von Arglist ausreichend. Der Kläger habe den Versicherer, dessen Mitarbeiter sowie den Sachverständigen nachhaltig und beharrlich getäuscht, insbesondere habe er sogar vorgetäuscht, dass kein schriftlicher Kaufvertrag existiere. Ein Mangel an intellektueller Kapazität lasse sich insbesondere durch die Rahmenumstände des Erwerbs des Kfz sowie der Tatsache, dass er trotz Aufklärung des Sachverhalts weiter nach Ausflüchten suche, nicht nachweisen.

Das Gericht führt weiter aus, dass es im Fall einer Arglist keiner Belehrung nach § 28 Abs. 4 VVG bedürfe, da der arglistig Handelnde nicht schutzwürdig sei. Zudem sei die Beklagte auch nicht nach Treu und Glauben an der Berufung auf die Leistungsfreiheit gehindert. Bei bereits erfolgter Gefährdung könne der Versicherungsnehmer die Folge der Leistungsfreiheit nur verhindern, wenn er die Angaben zum Sachverhalt aus eigenem Antrieb freiwillig vollständig und unmissverständlich mache.

Praxishinweis

Die Urteile des LG Heilbronn (Urteil vom 23.06.2016 - Ko 4 O 199/15, BeckRS 2016, 120188) sowie des OLG Stuttgart beschäftigen sich mit der in der Praxis häufig relevanten Wertungsfrage, ob das Verhalten des Versicherungsnehmers als arglistiges Handeln einzuordnen ist.

Hintergrund war, dass die grundsätzlich – aber eben nicht bei Arglist – erforderliche Belehrung gemäß § 28 Abs. 4 VVG vorliegend fehlte. Insoweit stellt das OLG Stuttgart zutreffend darauf ab, dass ein arglistiger Versicherungsnehmer nicht vor der endgültigen Leistungsfreiheit des Versicherers über diese Rechtsfolge belehrt werden muss (Wandt in Langheid/Wandt, VVG, 2. Aufl. 2017, § 28 Rn. 350). Der Senat kommt zu dem überzeugenden Ergebnis, dass angesichts des durchaus geschäftigen Verhaltens des Versicherungsnehmers von einem Mangel an intellektueller Kapazität nicht auszugehen war.

Auch in der Kfz-Versicherung dienen die Auskunftsobliegenheiten nach Eintritt des Versicherungsfalles dem Zweck, den Versicherer in die Lage zu versetzen, sachgemäße Entschließungen über die Behandlung des Versicherungsfalles zu treffen, ihm unnötige Kosten zu ersparen und ihn vor Fehlentscheidungen zu bewahren (s. Stiefel/Maier, AKB, 19. Aufl. 2017, E. Rn. 3).

Redaktion beck-aktuell, 7. Juli 2017.