Pkw blieb zwischen Beschleunigungsstreifen und Fahrbahn stehen
Der seinerzeit 45 Jahre alte Betroffene aus Ludwigshafen wollte im Mai 2017 mit einem Pkw BMW vom Rasthof Siegerland auf die Autobahn A 45 in Fahrtrichtung Frankfurt am Main auffahren. Auf der Autobahn staute sich der Verkehr. Vor dem Betroffenen fuhr ein weiterer Pkw, dem es gelang, in eine Lücke zwischen zwei Sattelzügen auf die rechte durchgehende Fahrbahn aufzufahren. Der Pkw musste dann wegen des vor ihm stehenden Sattelzuges anhalten. Der Betroffene konnte nicht vollständig auf die Fahrbahnspur wechseln und blieb schräg zwischen dem Beschleunigungsstreifen und der rechten Fahrbahn stehen. Beim Anfahren übersah ihn der nachfolgende Sattelzug. Es kam zum Zusammenstoß beider Fahrzeuge, ohne dass Personenschaden entstand.
AG ging von Wartepflicht aus
Im Bußgeldverfahren hat das AG Siegen den Betroffenen wegen fahrlässiger Nichtbeachtung der Vorfahrt auf der durchgehenden Fahrbahn (Verstoß gegen § 18 Abs. 3 StVO) zu einer Geldbuße in Höhe von 110 Euro verurteilt. Der Betroffene sei wartepflichtig gewesen. Er habe seinen "Überholvorgang" zu einem Zeitpunkt begonnen, zu dem er nicht mit Sicherheit habe sagen können, dass er ihn vollständig werde beenden können. Damit habe er das "Überholen“ des vorfahrtsberechtigten Sattelzuges erzwingen wollen, eine vorherige Verständigung mit dem Fahrer dieses Sattelzuges habe nicht stattgefunden.
Mindestmaß an Bewegung im Verkehr erforderlich
Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das erstinstanzliche Urteil war vor dem OLG Hamm vorläufig erfolgreich. Die bisherigen Feststellungen ergäben keinen Verstoß gegen § 18 Abs. 3 StVO, so der Senat. Das AG gehe zwar zutreffend davon aus, dass der auf eine Autobahn Auffahrende das Vorfahrtsrecht des fließenden Verkehrs zu beachten habe, und zwar auch dann, wenn zähfließender Verkehr oder staubedingt "Stop-and-Go-Verkehr" herrsche. Wie schon die gesetzliche Formulierung "Vorfahrt" zeige, müsse allerdings ein Mindestmaß an Bewegung im Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn der Autobahn herrschen, da ansonsten nicht von einer "Fahrt" gesprochen werden könne. Stehe der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn, gebe es keine "Vorfahrt", die Vorrang haben könne.
Nicht jeglicher verkehrsbedingte Halt umfasst
Das bedeute allerdings nicht, dass schon bei jeglichem verkehrsbedingten Halt auf der durchgehenden Fahrbahn – und sei er zeitlich auch noch so kurz – bereits die Vorfahrtsregelung des § 18 Abs. 3 StVO keine Geltung mehr beanspruchen könne. Erst wenn der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn in einer Weise zum Stehen gekommen sei, dass mit einer erneuten Fahrbewegung in kürzerer Frist nicht zu rechnen sei, sei das der Fall.
Dauer der Standzeit maßgeblich
Nach den Feststellungen des AG habe der Sattelzug hinter dem Betroffenen gestanden, ohne dass das AG konkrete Feststellungen zur Dauer dieser Standzeit getroffen habe. Aus der Beweiswürdigung ergebe sich allerdings, dass der als Zeuge vernommene Fahrer des Sattelzuges bekundet habe, dass er etwa drei bis vier Minuten gestanden habe. Sollte tatsächlich eine so lange Standzeit geherrscht haben, so habe der Betroffene die Vorfahrt des Sattelzuges nicht missachten können. Dabei mache es für die Regelung des § 18 Abs. 3 StVO keinen Unterschied, ob der Betroffene bereits ganz oder nur teilweise auf der Fahrbahn eingefädelt gewesen sei.
AG muss Unklarheiten prüfen
Das AG habe daher in der neuen Verhandlung aufzuklären, inwieweit sich der Lkw in einer Fahrbewegung befunden habe, als der Betroffene mit seinem Fahrzeug von der Beschleunigungsspur auf die rechte Fahrbahn gewechselt ist. Dabei sei gegebenenfalls auch aufzuklären, ob der Betroffene gegen § 1 Abs. 2 StVO verstoßen habe, weil er so dicht vor dem (stehenden) Sattelzug auf den rechten Fahrstreifen aufgefahren sei, dass dessen Fahrer ihn wegen des sogenannten "toten Winkels" eines Lkw-Fahrers nicht unmittelbar habe wahrnehmen können.