OLG Hamm: Busfahrer haftet nicht für Sturz einer Gehbehinderten beim Anfahren

Der Fahrer eines Linienbusses darf den Bus nach dem Zustieg eines laut Schwerbehindertenausweis gehbehinderten Fahrgastes, dessen Einschränkung äußerlich nicht erkennbar ist, anfahren, bevor der Fahrgast einen Sitzplatz eingenommen hat. Allein die Vorlage eines Schwerbehindertenausweises mit dem Merkzeichen G verpflichtet den Fahrer nicht zur besonderen Rücksichtnahme. Vielmehr kann von dem gehbehinderten Fahrgast erwartet werden, dass er den Busfahrer auf seine Gehbehinderung anspricht und gegebenenfalls darum bittet, das Anfahren bis zur Einnahme eines Sitzplatzes zurückzustellen. Das hat das Oberlandesgericht Hamm mit Beschlüssen vom 13.12.2017 und 28.02.2018 entschieden (Az.: 11 U 57/17, rechtskräftig).

Schwerbehinderte stürzt bei Anfahren eines Linienbusses

Die seinerzeit 60 Jahre alte Klägerin bestieg im April 2016 den vom zweitbeklagten Busfahrer gesteuerten Linienbus des erstbeklagten kommunalen Nahverkehrsbetriebs. Die Klägerin ist aufgrund eines Hüftschadens zu 100% schwerbehindert. Ihr Schwerbehindertenausweis ist mit dem Merkzeichen G versehen. Eine Gehhilfe benutzt die Klägerin nicht. Beim Einstieg zeigte sie ihren Schwerbehindertenausweis vor, ohne den Busfahrer um eine weitere Rücksichtnahme zu bitten. Sie setzte sich sodann nicht auf den hinter dem Fahrer befindlichen, für Schwerbehinderte ausgewiesenen Sitzplatz oder einen anderen, nahegelegenen freien Sitzplatz, sondern ging durch den Bus, um sich auf einen Sitzplatz in der Nähe des ersten Ausstiegs zu setzen. Bevor die Klägerin sich setzen konnte, fuhr der Bus an. Hierbei stürzte die Klägerin und zog sich einen Oberschenkelbruch zu. Aufgrund der erlittenen Verletzungen hat sie von den Beklagten Schadenersatz verlangt, unter anderem ein Schmerzensgeld in Höhe von 11.500 Euro und den Ausgleich eines Haushaltsführungsschadens von circa 4.000 Euro. Sie hat gemeint, der Busfahrer habe allein aufgrund des vorgezeigten Schwerbehindertenausweises mit dem Anfahren abwarten müssen, bis sie einen Sitzplatz eingenommen habe.Das Landgericht Bochum wies die Klage ab.

Erhebliches Mitverschulden wegen Verstoßes gegen Eigensicherung

Das OLG bestätigte die Klageabweisung. Ein Fahrgast habe sich unmittelbar nach dem Zusteigen in einer Straßenbahn oder einen Linienbus sicheren Stand oder einen Sitzplatz sowie sicheren Halt zu verschaffen. Werde dies gerade in dem Zeitraum des besonders gefahrenträchtigen Anfahrens versäumt, treffe den Fahrgast ein erhebliches Mitverschulden. Hinter diesem trete die Betriebsgefahr des Verkehrsmittels regelmäßig völlig zurück. Im vorliegenden Fall habe die Klägerin gegen ihre Obliegenheit zur Eigensicherung verstoßen. Sie habe keinen im Einstiegsbereich vorhandenen freien Sitzplatz eingenommen und sich beim Anfahren nicht hinreichend festgehalten. Zudem habe sie den Busfahrer nicht darum gebeten, mit dem Anfahren abzuwarten, bevor sie Platz genommen habe.

Verschulden des Busfahrers nur in Ausnahmefall

Ein Verschulden des Busfahrers sei demgegenüber nicht festzustellen. Von einem Busfahrer, der auf andere Verkehrsteilnehmer und äußere Fahrtsignale zu achten habe, sei regelmäßig nicht zu verlangen, dass er zugestiegene Fahrgäste besonders im Blick behalte. Eine solche Verpflichtung sei nur ausnahmsweise gegeben, wenn für den Busfahrer eine schwerwiegende Behinderung des Fahrgastes erkennbar sei, nach der der Fahrgast ohne besondere Rücksichtnahme gefährdet sei. Ein solcher Ausnahmefall habe für den beklagten Busfahrer nicht vorgelegen. Die Klägerin habe den Bus ohne erkennbare Probleme und ohne fremde Hilfe bestiegen und keinen der nahegelegenen, freien Sitzplätze eingenommen.

Schwerbehindertenausweis allein begründet keine besondere Rücksichtnahmepflicht

Allein aus der Vorlage des Schwerbehindertenausweises – wobei offenbleiben könne, ob die Klägerin tatsächlich auch die Rückseite mit dem Merkzeichen G vorgezeigt habe – habe der Busfahrer nicht schließen müssen, dass die Klägerin ohne eine besondere Rücksichtnahme gefährdet sei. Ein Schwerbehindertenausweis, auch ein solcher wie der der Klägerin, der zur unentgeltlichen Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs berechtige, besage nicht, dass auf den Inhaber beim Zusteigen in öffentliche Verkehrsmittel grundsätzlich besonders Rücksicht zu nehmen sei. So könne zum Beispiel von einem gehörlosen Menschen regelmäßig angenommen werden, dass er keiner besonderen Hilfe bedürfe, um in einem Linienbus einen Sitzplatz einzunehmen.

Merkzeichen G steht nicht nur für körperliche Schwierigkeiten

Ein Schwerbehindertenausweis mit dem Merkzeichen G erhalte zudem auch ein primär in seiner Orientierungsfähigkeit gestörter Mensch, auf den bei der Sitzplatzeinnahme in einem Linienbus ebenfalls nicht besonders Rücksicht genommen werden müsse. Deswegen sei von einer behinderten Person, die – wie die Klägerin – äußerlich keine Anzeichen für eine Gehbeeinträchtigung erkennen lasse, zu erwarten, dass sie den Busfahrer auf ihre Situation aufmerksam macht und gegebenenfalls bittet, das Anfahren bis zur Einnahme eines Sitzplatzes zurückzustellen.

OLG Hamm, Beschluss vom 28.02.2018 - 11 U 57/17

Redaktion beck-aktuell, 20. April 2018.