Haftung der Erben nach Bahn-Suizid kann gegenüber Lokführer ausgeschlossen sein

Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hat am 24.06.2020 im Fall eines Bahn-Suizids eine Haftung der Erben des Verstorbenen gegenüber dem Lokführer verneint, da der Suizident in einem die freie Willensentschließung ausschließenden Zustand gehandelt habe. Die akribische Planung der Selbsttötung habe der Verschuldensunfähigkeit wegen des Tunnelblicks des Suizidenten nicht entgegengestanden.

Schadensersatz von Erben des Suizidenten begehrt

Anfang 2013 kollidierte kurz nach Mitternacht ein Güterzug zwischen Geisenheim und Rüdesheim mit einer Person im Gleisbett. Der Lokführer bemerkte sie, als sie etwa 20 Meter vor dem Triebfahrzeug auftauchte. Obwohl er eine Schnellbremsung einleitete, konnte er nicht verhindern, dass er die Person tödlich erfasste. Der Lokführer war daraufhin knapp zwei Jahre arbeitsunfähig krankgeschrieben. Die Klägerin begehrte von den Erben der verunglückten Person Schadensersatz in Höhe von gut 90.000 Euro für Leistungen, die sie an den Lokführer geleistet hat (Fortzahlung der Dienstbezüge, Heilbehandlungskosten). Das Landgericht wies die Klage ab. Dagegen legte die Klägerin Berufung ein.

OLG: Mangels Verschuldensfähigkeit des Suizidenten keine Haftung der Erben

Die Berufung hatte keinen Erfolg. Die Erben des Verstorbenen hafteten der Klägerin nicht für den geltend gemachten wirtschaftlichen Schaden des Lokführers, entschied das OLG. Der Verstorbene habe im Zeitpunkt der Schadenszufügung nicht schuldhaft gehandelt. Er habe dem Lokführer den Schaden vielmehr in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit zugefügt (§ 827 BGB). Der Sachverständige sei überzeugend von einem planvollen Suizid ausgegangen. Er habe auch ausgeführt, dass der Verstorbene nicht mehr in der Lage gewesen sei, seine Gedanken auf die Auswirkungen seines Tuns, insbesondere für den Lokführer zu richten und seine Entscheidung zu verändern.

Hier freie Willensbestimmung ausschließender Tunnelblick

Dabei habe der Sachverständige entgegen den Einwänden der Klägerin auch nicht angenommen, dass automatisch jeder Suizid in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit begangen werde. Er habe aber konkret ausgeführt, warum hier bei dem Verstorbenen von einem Maß der gedanklichen Einengung und Fixierung auf die Selbsttötung als alternativlos und einzig gangbaren Weg in einer unerträglichen von Krisensituation unter Ausblendung aller entgegenstehenden Erwägungen auszugehen sei.

Suizidplanung steht Verschuldensunfähigkeit nicht entgegen

Dass der Verstorbene seine Suizidhandlung bewusst und akribisch geplant habe, spreche nicht für seine Schuldfähigkeit. Der Sachverständige habe insoweit überzeugend dargelegt, dass der Verstorbene zu diesem Zeitpunkt nur noch ein Ziel - seinen Freitod - gekannt habe. Er habe weder zwischen richtig und falsch unterscheiden noch Alternativen wahrnehmen können.

Auch keine Haftung aus Billigkeitsgründen

Es bestehe auch keine Ersatzpflicht der Beklagten aus Billigkeitsgründen (§ 829 BGB). Die Vermögensverhältnisse des Verstorbenen stellten sich nicht besser als die des Geschädigten dar. Die freiwillige Haftpflichtversicherung des Verstorbenen sei nicht in sein Vermögen einzubeziehen. Das Risiko, dass der Versicherungsnehmer einen Schaden herbeiführe, für den er nicht verantwortlich sei, sei grundsätzlich nicht versichert. Bestehe damit kein Versicherungsschutz, könne dieser auch keinen in den Vergleich der Vermögenslagen einzubeziehenden Vermögenswert darstellen.

OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 24.06.2020 - 16 U 265/19

Redaktion beck-aktuell, 14. Juli 2020.