OLG Dresden: Aufbewahren des Fahrzeugscheins im Fahrzeug führt Kfz-Diebstahl regelmäßig nicht herbei

VVG §§ 28 I, 28 III, 81

Durch das Aufbewahren des Fahrzeugscheins im Fahrzeug wird der Schadensfall regelmäßig weder vorsätzlich noch grob fahrlässig herbeigeführt. Die auf Überforderung des Versicherungsnehmers beruhenden Falschangaben zu Nachschlüsseln und weiteren Nutzern eines gestohlenen Pkw stellen abhängig von den Umständen des Einzelfalles einen mittleren Grad von Fahrlässigkeit dar, der eine Leistungskürzung um 50% rechtfertigen kann. Dies hat das Oberlandesgericht Dresden entschieden.

OLG Dresden, Urteil vom 12.04.2019 - 4 U 557/18 (LG Leipzig), BeckRS 2019, 7718

Anmerkung von
Rechtsanwalt Holger Grams, Kanzlei GRAMS Rechtsanwälte, Fachanwalt für Versicherungsrecht, München

Aus beck-fachdienst Versicherungsrecht 10/2019 vom 16.05.2019

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Sachverhalt

Die Klägerin begehrt von der Beklagten Leistungen aus einer Kfz-Kaskoversicherung wegen des Diebstahls des versicherten Fahrzeugs. Der Versicherer bestreitet das Vorliegen eines Diebstahls und beruft sich auf Leistungsfreiheit, zum einen wegen Gefahrerhöhung bzw. vorsätzlicher Herbeiführung des Versicherungsfalls aufgrund Aufbewahrung des Fahrzeugscheins im Handschuhfach des Wagens, zum anderen wegen Verletzung einer Aufklärungsobliegenheit durch falsche Angaben zu Nachschlüsseln und weiteren Nutzern des Fahrzeugs.

Das Landgericht wies die Klage ab. Auf die Berufung der Klägerin gab das OLG der Klage in Höhe einer Quote von 50% statt.

Rechtliche Wertung

Von einem Diebstahl des Fahrzeugs und damit von einem versicherten Ereignis sei auszugehen, so das OLG. Der Entwendungsnachweis sei unter Berücksichtigung der anzuwendenden Beweiserleichterungen bei Diebstählen (hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Diebstahls aufgrund des äußeren Bildes, st. Rspr., z.B. BGH, BeckRS 1983, 30374866) mithilfe von Zeugen geführt. Der Versicherer habe keine Umstände nachgewiesen, die eine Vortäuschung des Versicherungsfalls mit erheblicher Wahrscheinlichkeit nahelegten. Allein die nicht lückenlos schlüssigen Angaben der Klägerin zu den Schlüssel- und Nutzungsverhältnissen reichten dafür nicht aus, solange keine weiteren Verdachtsmomente für ein Vortäuschen vorlägen.

Von einer Gefahrerhöhung im Hinblick auf das Diebstahlsrisiko durch das Aufbewahren des Fahrzeugscheins im Handschuhfach des Fahrzeugs sei nicht auszugehen. Auch von einer Leistungsfreiheit des Versicherers bzw. einer Leistungskürzung wegen vorsätzlicher oder auch nur grob fahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalls (§ 81 Abs. 1, 2 VVG) sei nicht auszugehen. Hierfür reiche nicht aus, dass die Klägerin den Fahrzeugschein vorsätzlich oder grob fahrlässig im Handschuhfach aufbewahrt habe, da sich das qualifizierte Verschulden auch auf den Versicherungsfall selbst, also auf die Entwendung des Fahrzeugs, beziehen müsse. Auch wenn es sich für den Dieb im Nachgang zu einem Diebstahl als vorteilhaft erweise, den Fahrzeugschein zu haben, sei das Verwahren des Scheins im Fahrzeug in aller Regel nicht kausal für die Entwendung (so z.B. BGH, r + s 1996, 168).

Der beklagte Versicherer sei aber wegen grob fahrlässiger Verletzung einer Aufklärungspflicht teilweise leistungsfrei. Aufgrund der Beweisaufnahme und der persönlichen Anhörung der Klägerin stehe fest, dass diese im Hinblick auf die Schlüssel- und die Nutzungsverhältnisse z.T. objektiv falsche Angaben gemacht habe. Von Arglist, die erfordere, dass der Versicherungsnehmer zumindest bedingt vorsätzlich dem Versicherer einen Nachteil zufügen wolle, gehe der Senat nicht aus. Er habe bei der Anhörung den Eindruck gewonnen, dass die Klägerin, insbesondere wegen ihrer vielfältigen geschäftlichen Aktivitäten (Pizza-Lieferdienst mit 13 Fahrzeugen, z.T. mit privater Nutzung, weitere Fahrzeuge, Betrieb einer Pension, Renovierungsarbeiten, alleinerziehende Mutter) schlichtweg überfordert gewesen sei, auch wenn sich die Falschangaben bei Einhaltung der erforderlichen Sorgfalt hätten vermeiden lassen.

Es sei nicht auszuschließen, dass die Ermittlungen (die offenbar erfolglos blieben) anders verlaufen wären, wenn sie sich von vornherein auf den Verlust eines Schlüssels, mögliche Kopierspuren am Schlüssel und auf den von der Klägerin zunächst nicht als Nutzer des Fahrzeugs angegebenen Tatverdächtigen R. konzentriert hätten. Ein Kausalitätsgegenbeweis nach § 28 Abs. 3 S. 1 VVG sei von der Klägerin nicht geführt.

Das Verschulden der Klägerin bewege sich an der Grenze zwischen einer groben und einer einfachen Fahrlässigkeit. Nach Abwägung aller Umstände halte der Senat eine Leistungskürzung von 50% für gerechtfertigt.

Praxishinweis

Die Ausführungen in den Entscheidungsgründen, insbesondere zur fehlenden Kausalität der Aufbewahrung des Fahrzeugscheins im Wagen, erscheinen überwiegend nachvollziehbar und zutreffend, allerdings mit einer Ausnahme: Eine Leistungskürzung ist nach § 28 Abs. 2 S. 2 VVG nur bei einer grob fahrlässigen Obliegenheitsverletzung zulässig. Bei einfacher Fahrlässigkeit bleibt es bei der vollen Leistungspflicht des Versicherers. Nach der amtlichen Begründung des Regierungsentwurfs zu § 28 Abs. 3 VVG bei der Novellierung des VVG (BT-Drs. 16/3945, S. 69) soll die Leistungskürzung «dem Grad der groben Fahrlässigkeit» des Versicherungsnehmers entsprechen, grobe Fahrlässigkeit nahe beim Vorsatz soll also zu hoher Leistungskürzung, grobe Fahrlässigkeit nahe der einfachen Fahrlässigkeit nur zu geringer Leistungskürzung führen. Davon ausgehend ist das Ergebnis einer 50%-igen Quotelung nicht nachvollziehbar. Andere Parameter, die in die Bemessung der Quotelung einfließen könnten (z.B. objektives Gewicht der verletzten Sorgfaltspflicht, Grad der Ursächlichkeit, vgl. Felsch, r + s 2007, 485, 491 ff.) hat der Senat in seiner Entscheidung nicht diskutiert. Die von ihm festgestellten subjektiven Besonderheiten auf Seiten der Klägerin haben bei der Bemessung der Quote auch keine erkennbare Rolle gespielt. Aufgrund der im Urteil getroffenen Feststellungen erscheint die hälftige Leistungsfreiheit daher eher zu hoch bemessen.

Redaktion beck-aktuell, 3. Juni 2019.