LSG Hessen: Volle Rente trotz nur teilweiser Erwerbsminderung bei verschlossenem Teilzeitarbeitsmarkt

Ein nur teilweise erwerbsgeminderter Arbeitnehmer hat Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn der Teilzeitarbeitsmarkt verschlossen ist. Dabei stünden  Ansprüche des Versicherten auf eine Arbeitszeitreduzierung gegenüber seinem Arbeitgeber der Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes nicht entgegen, entschied das Landessozialgericht Hessen mit Urteil vom 23.08.2019. Denn den Versicherten treffe keine Mitwirkungspflicht, bei seinem Arbeitgeber eine Verringerung der Arbeitszeit zu beantragen. Das LSG hat die Revision zugelassen (Az.: L 5 R 226/18, BeckRS 2019, 22399).

Vollzeit-Erwerbsminderungsrente begehrt

Der Kläger, ein 1959 geborener, im öffentlichen Dienst beschäftigter Bauzeichner wurde 2012 aufgrund einer psychiatrischen Erkrankung arbeitsunfähig und erhielt zunächst Krankengeld, anschließend Arbeitslosengeld. Der Versicherte, dessen Arbeitsverhältnis aufgrund tarifvertraglicher Regelung ruht, beantragte eine Rente wegen Erwerbsminderung, da er nur noch drei bis unter sechs Stunden täglich arbeiten könne.

Wegen Anspruch auf Arbeitszeitreduzierung nur Teilzeitrente gewährt

Die Rentenversicherung gewährte ihm allerdings lediglich eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung. Sie verwies darauf, dass er gegenüber seinem Arbeitgeber seinen Anspruch auf Reduzierung der Arbeitszeit geltend machen müsse. Der erkrankte Versicherte verwies darauf, dass sein Arbeitgeber erklärt habe, keinen leidensgerechten Arbeitsplatz zur Verfügung stellen zu können. Das SG gab dem Versicherten Recht. Dagegen legte die Rentenversicherung Berufung ein.

LSG: Anspruch auf Vollzeitrente bei verschlossenem Teilzeitarbeitsmarkt

Die Berufung hatte keinen Erfolg. Der Kläger habe trotz eines nur teilweise geminderten Restleistungsvermögens einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, da der Teilzeitarbeitsmarkt verschlossen sei (sogenannte Arbeitsmarktrente), der Kläger also praktisch nicht damit rechnen könne, dass sich ihm eine Gelegenheit zur entgeltlichen Nutzung seiner reduzierten Arbeitsfähigkeit biete. Eine Verschlossenheit des Arbeitsmarktes liege nach jahrzehntelanger ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vor, wenn weder der Rentenversicherungsträger noch die Agentur für Arbeit dem Versicherten innerhalb eines Jahres nach Rentenantragstellung einen entsprechenden Arbeitsplatz anbieten könnten. In der Praxis sähen die Rentenversicherungsträger allerdings bislang wegen der geringen Vermittlungschancen grundsätzlich von einer Prüfung im Einzelfall ab.

Keine Pflicht zur Beantragung einer Arbeitszeitreduzierung

Nicht verschlossen ist der Arbeitsmarkt laut LSG, wenn der Versicherte einen Arbeitsplatz tatsächlich innehat und daraus Arbeitsentgelt bezieht. Dies sei vorliegend jedoch nicht der Fall, da das konkrete Arbeitsverhältnis ruhe. Auch sei dem Versicherten von seinem Arbeitgeber kein leidensgerechter Arbeitsplatz angeboten worden. Dass der Versicherte eine Reduzierung der Arbeitszeit nicht beantragt habe, stehe dem Anspruch auf Vollzeitrente nicht entgegen. Zwar kämen gesetzliche und tarifvertragliche Ansprüche auf Teilzeitbeschäftigung in Betracht, soweit eine solche für den Arbeitgeber zumutbar sei und betriebliche Gründe nicht entgegenstünden. Auf diese arbeitnehmerrechtlichen Ansprüche könne sich die Rentenversicherung jedoch nicht berufen. Dem Versicherten obliege weder eine gesetzliche noch eine ungeschriebene Mitwirkungspflicht, diese Ansprüche gegenüber seinem Arbeitgeber geltend zu machen. Das Verhalten des Versicherten sei auch nicht rechtsmissbräuchlich.

LSG Hessen, Urteil vom 23.08.2019 - L 5 R 226/18

Redaktion beck-aktuell, 16. Oktober 2019.