LG Hamburg: Volle Haftung bei Auffahren auf wegen Martinshorns abgebremstes Fahrzeug

StVG §§ 7, 17; StVO § 4 I 1; BGB §§ 288, 291; ZPO §§ 92 II Nr. 1, 100 IV, 709; VVG § 115

Fährt beim Anfahren an einer Kreuzung das hintere Fahrzeug auf das vordere auf, weil dessen Fahrer sein Fahrzeug wegen eines wahrgenommenen Martinshorns abgebremst hat, haftet der Hintermann nach Auffassung des Landgerichts Hamburg voll. Die einfache Betriebsgefahr des vorderen Fahrzeugs trete in dieser Konstellation zurück.

LG Hamburg, Urteil vom 21.10.2016 - 306 O 141/16, BeckRS 2016, 109637

Anmerkung von
Rechtsanwalt Ottheinz Kääb, LL.M., Fachanwalt für Verkehrsrecht und für Versicherungsrecht,
Rechtsanwälte Kääb Bürner Kiener & Kollegen, München

Aus beck-fachdienst Straßenverkehrsrecht 2/2017 vom 02.02.2017

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Sachverhalt

Die Fahrzeuge der Parteien standen hintereinander, die Klägerin vorne, dahinter der Beklagte, an einer roten Ampel auf einem Fahrstreifen für Rechtsabbieger. Als die Ampel auf Grün schaltete fuhren beide Fahrzeuge an. Während des Anfahr- und Abbiegevorgangs vernahm die klägerische Fahrerin das akustische Signal eines Rettungswagens und unternahm eine Bremsung. Der Beklagte fuhr auf. Die Klägerin wurde verletzt und ihr Fahrzeug beschädigt.

Das Gericht vernahm die Klägerin und hörte den Beklagten an. Dass ein Einsatzfahrzeug «in der Nähe» war, war unstreitig. Jedoch wies der Beklagte darauf hin, dass der Rettungswagen sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite befunden habe.

Rechtliche Wertung

Das Gericht entschied auf volle Haftung des Beklagten. Im Rahmen der Abwägung gegenseitiger Betriebsgefahren und Verursachungsbeiträge könnten nur feststehende Tatsachen berücksichtigt werden.

Der Anscheinsbeweis streite hier für die Klagepartei. Dass sie gebremst habe, sei unstreitig. Ein Verkehrsverstoß nach § 4 StVO könne darin nur liegen, wenn die Klägerin plötzlich scharf gebremst habe. Das behaupte nicht einmal der Beklagte. Dass die Klägerin abgebremst habe, entspreche sogar ihrer gesetzlichen Verpflichtung. Denn wer ein Martinshorn höre, dürfe erst weiterfahren, wenn er sich überzeugt habe, dass er oder sie dieses Einsatzfahrzeug nicht behindern werde.

Praxishinweis

Die Entscheidung wird hier vorgestellt, weil über Einsatzfahrzeuge und über Unfälle, die sich anlässlich einer Einsatzfahrt ereignen, häufig gestritten wird. Das Gericht hat die «beteiligte» Zeugin, die Klägerin und im Sinne der Waffengleichheit auch den Beklagten-Fahrer angehört und ist völlig zu Recht zur Haftungsquote 100:0 gekommen.

Für den Ansatz der Betriebsgefahr auf Seiten der Klägerin ist in solchen Konstellationen tatsächlich kein Raum mehr. Der Hintermann muss gerade beim Anfahren an einer Kreuzung ständig mit einem Abbremsen rechnen, weil der Vordere mehr sieht und mehr hört.

Redaktion beck-aktuell, 9. Februar 2017.