Juristen in Bezug auf Bundes-Notbremse uneins

Die geplante Bundes-Notbremse gegen Corona findet ein geteiltes Echo bei Rechtswissenschaftlern. Zu der Frage, ob etwa nächtliche Ausgangsbeschränkungen angemessen seien, waren die Sachverständigen bei einer Anhörung im Gesundheitsausschuss des Bundestags am vergangenen Freitag unterschiedlicher Meinung.

"Insgesamt gelungen"

Ausdrückliches Lob für das Vorhaben insgesamt kam von Michael Brenner von der Universität Jena, der den Entwurf für eine bundesweite Notbremse als "insgesamt gelungen" bewertete. Der Entwurf finde den richtigen Weg zwischen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus auf der einen und verhältnismäßigen Grundrechts-Einschränkungen auf der anderen Seite. Auch die Inzidenzzahl 100 sei ein "sinnvolles Kriterium" zur Erfassung des Infektionsgeschehens: Wenn man stattdessen auf die Zahl der Infizierten schaue oder auf die Patienten, die auf Intensivstationen beatmet werden müssten, "dann ist das Kind schon längst in den Brunnen gefallen", so Brenner. Die nächtlichen Ausgangssperren stufte Brenner insgesamt als verhältnismäßig und verfassungsgemäß ein. Allerdings sei eine Sperre ab 22.00 Uhr realistischer und verhältnismäßiger als um 21.00 Uhr.

Rechtsschutz nur noch vor dem BVerfG?

Professor Ferdinand Wollenschläger von der Universität Augsburg sieht in der mit der Bundesgesetzgebung verbundenen Zentralisierung des Rechtsschutzes beim Bundesverfassungsgericht "kein Rechtsschutzdefizit". Vielmehr verbürge die Verfassungsbeschwerde effektiven Individualrechtsschutz gerade mit Blick auf die im Zentrum stehenden Grundrechtsfragen, befand er. Verfassungsrechtliche Probleme sieht hingegen Professor Christoph Möllers von der Humboldt Universität Berlin. Es gebe Tausende von Grundrechtseingriffen in unüberschaubar vielen Konstellationen, die künftig einzig vom Bundesverfassungsgericht zu bewältigen seien. "Wenn das kein Problem wäre, bräuchten wie keine Verwaltungsgerichtsbarkeit", sagte er. 

Ausgangssperren bleiben umstritten

Problematisch seien auch die Ausgangssperren, zu denen es Alternativen wie etwa zweckgerichtete Kontaktsperren gebe. Die Festlegung auf den Inzidenzwert 100 sah Möllers auch kritisch und befürchtet ein "Einpegeln rund um den Wert". Professor Kai Nagel von der TU Berlin räumte ein, das nächtliche Ausgangssperren den R-Wert reduzieren könnten. Modulationen zeigten aber, dass der Erfolg fünf Mal so hoch sei, wenn ganztätig der Aufenthalt im öffentlichen Raum "zum Zweck eines privaten Besuches" verboten würde. Großbritannien und Portugal hätten mit einer derartigen Regelung gute Erfahrungen gemacht.

Stärkere Unterscheidung zwischen drinnen und draußen gefordert

Thorsten Kingreen von der Universität Regensburg zog nächtliche Ausgangssperren in Zweifel, weil sie ausgerechnet den Aufenthalt im Freien beschränken würden. Eine stärkere Unterscheidung zwischen drinnen und draußen bei den Vorgaben hielt er für angebracht. Es sei zudem unverhältnismäßig, wenn Ausgangssperren nur an der Inzidenzzahl anknüpften und auch für vollständig Geimpfte gelten würden – falls ein Geimpfter vor dem Bundesverfassungsgericht klagen würde, stelle das einen "Elfmeter" für ihn dar.

Schubumkeht statt Bremse

Die bundesweite Vereinheitlichung der Corona-Schutzmaßnahmen durch eine gesetzliche Regelung führt aus Sicht von Andrea Kießling von der Ruhr Uni Bochum zu Rechtsunsicherheit und schränkt die Rechtsschutzmöglichkeiten der Bevölkerung ein. Das aktuelle Infektionsgeschehen und die Situation in den Krankenhäusern in Deutschland erfordere gleichwohl dringend das Ergreifen "wirksamer Schutzmaßnahmen". Eine Ausgestaltung der "Notbremse", die das Infektionsgeschehen nur um den Inzidenzwert von 100 verstetige, sei für eine nachhaltige Eindämmung des Infektionsgeschehens ungeeignet. "Notwendig ist keine Bremse, sondern eine Schubumkehr", betonte Kießling.

Kölner Professor mit Grundlagenkritik

Aus Sicht von Professor Ulrich Vosgerau von der Universität zu Köln hat das Gesetz mit einer klassischen Gefahrenabwehr nichts zu tun, sondern sei eine Notstandsgesetzgebung. Beleg dafür sei, das auch "Nicht-Störer", also nicht Infizierte, ihre grundrechtlichen Freiheiten aufgeben müssten. Auch die Abstellung auf den Inzidenzwert von 100 sei nicht geeignet, um die Maßnahmen zu begründen. Eine positive Testung sage bei symptomfreien Personen nichts darüber aus, ob diese die Viren verbreiten können, sagte Vosgerau. Ihm scheine, so sagte er weiter mit Blick auf die Einschränkung des Weges der Klage auf das Bundesverfassungsgericht, der Zweck des Gesetzes bestehe darin, "die Oberverwaltungsgerichte auszuschalten".

Absegnung durch Bundestag und Bundesrat steht noch aus

Mit dem Gesetz soll es künftig bundeseinheitliche Regelungen für Corona-Maßnahmen geben. Überschreitet die Zahl der Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen in einer Stadt oder einem Landkreis den Wert von 100 an drei aufeinander folgenden Tagen, müssen etwa Geschäfte geschlossen werden und es greifen Ausgangsbeschränkungen zwischen 21.00 und 5.00 Uhr. Der Bundestag muss dem aber noch zustimmen, zudem müssten die Neuerungen den Bundesrat passieren. Der Bundesrat hat am kommenden Donnerstag eine Sondersitzung angesetzt, in der über die Vorlage entschieden werden kann.

Redaktion beck-aktuell, 19. April 2021 (dpa).