Gerichtsentscheidung löst Diskussion um 2G im Einzelhandel aus
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Letzte Woche hat das Ober­ver­wal­tungs­ge­richt Lü­ne­burg entschieden, die 2G-Regel im Einzelhandel in Niedersachsen vor­läu­fig außer Voll­zug zusetzen. Seitdem verschärft sich der Streit um die coronabedingten Zugangsbeschränkungen in den deutschen Einkaufsstraßen und Shopping-Centern. Wir geben einen Überblick über den Meinungsstand in Politik und Wirtschaft und werfen einen Blick auf die verwaltungsrechtliche Covid-19-Judikatur.

OVG Lüneburg kippt 2G-Regel

In seiner Begründung hat das OVG Lüneburg im Hinblick auf die Erforderlichkeit der 2G-Regel insbesondere bemängelt, dass verlässliche und nachvollziehbare Feststellungen zur tatsächlichen Infektionsrelevanz des Geschehens im Einzelhandel fehlten und argumentiert, dass Kunden auch im Einzelhandel dazu verpflichtet werden könnten, eine FFP2-Maske zu tragen. Darin liege ein milderes, gleich effektives Mittel. Zudem sei die Maßnahme auch nicht mit dem allgemeinen Gleichheitssatz vereinbar, da beispielsweise Baumärkte zur 2G-Regel verpflichtet würden, vergleichbare Geschäfte wie Güter des gärtnerischen Facheinzelhandels und Güter zur Reparatur und Instandhaltung von Elektronikgeräten hingegen nicht.

Ministerpräsident Weil plant Anhörung vor dem OVG

Die Entscheidung hat kontroverse Reaktionen in Politik und Wirtschaft hervorgerufen. Die Bundesregierung hält ausdrücklich an den Zugangsverboten für Ungeimpfte in weiten Teilen des Einzelhandels fest. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach sagte, es mache weder epidemiologisch noch gesundheitspolitisch Sinn, solche Regeln jetzt zu kippen. Dies gelte insbesondere wegen der bevorstehenden Welle mit der neuen Virusvariante Omikron. Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) befürchtet einen "Einkaufstourismus" in sein Land. Er habe nicht die Absicht "Richterschelte" zu betreiben, sagte er gegenüber dem NDR. Das niedersächsische Sozialministerium werde allerdings eine Anhörung vor dem OVG beantragen. Weil wolle mit Hilfe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern dem Gericht das Risiko der Omikron-Variante und eine daraus resultierende Begründung für 2G besser vermitteln.

Auswirkung auf andere Bundesländer?

Demgegenüber zeigt sich die Antragstellerin, Betreiberin der Kaufhauskette "Woolworth", über ihren vorläufigen Erfolg erfreut. Wie die Zeitung "Zeit" berichtete, halte die Kaufhauskette die Zugangsbeschränkung für diskriminierend, insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Einzelhandel nachweislich kein Treiber der Pandemie sei. Man sei zuversichtlich, dass sich weitere Bundesländer der Rechtsprechung aus Niedersachsen anschließen würden, so eine Konzernsprecherin. Auch der Handelsverband Deutschland (HDE) begrüßte die Entscheidung und forderte die Politik umgehend auf, nun "2G im Handel hinter sich zu lassen". In diesem Sinne wirft auch das "ZDF" die Frage auf, ob "2G im Einzelhandel bald Geschichte" sei. Die vom OVG gefällte Entscheidung gelte zwar nur für Niedersachsen, nicht aber die sehr grundsätzlichen Argumente der Richterinnen und Richter. Sie könnten auch Gerichte in anderen Bundesländern überzeugen, die zeitnah über anhängige Anträge zur 2G-Regel zu entscheiden hätten. Dies sieht der Staatsrechtler Ulrich Battis, früher Professor an der Berliner Humboldt-Universität, anders. Wie das "Redaktionsnetzwerk Deutschland" berichtet, sieht Battis in dem Beschluss angesichts des sich schnell ändernden Infektionsgeschehens nur eine Momentaufnahme. Man könne von ihm nicht auf andere Beschlüsse schließen.

Rechtswissenschaftler sprechen von Fehlentscheidung

Ebenfalls kritisch äußert sich der Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bielefeld, Franz C. Mayer. Er hält den Beschluss für eine klare Fehlentscheidung. Das Gericht habe die eigene Rolle in der Pandemie verkannt und ignoriert, dass das Bundesverfassungsgericht den Regierungen und Parlamenten hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit von Corona-Maßnahmen relativ viel Spielraum gegeben und sich selbst dabei bewusst zurückgenommen habe. Außerdem hätten die Richterinnen und Richter versucht, freihändig eigene Abwägungen und Überlegungen insbesondere zur Gefährlichkeit der Omikron Variante und der Wirksamkeit von FFP2-Masken zu treffen, für die sie keine Expertise hätten und die dem Normgeber vorbehalten bleiben müssten. Ebenfalls letzte Woche wurden Eilanträge zur 2G-Regel im Einzelhandel vom OVG Schleswig-Holstein und vom OVG Brandenburg abgelehnt. Insbesondere die Erkenntnisse über das Infektionsgeschehen in den Geschäften, den Einfluss der Omikron-Variante und die Effektivität milderer Mittel haben die Gerichte unterschiedlich bewertet. Damit ist Niedersachsen derzeit das einzige Bundesland, in dem die 2G-Regel im Einzelhandel gekippt wurde.

Quantitative Auswertung der verwaltungsgerichtlichen Judikatur

Um Orientierung und Struktur in die verwaltungsrechtliche Covid-19-Rechtssprechung zu bringen, haben Johannes Kruse und Christian Langner in der aktuellen NJW im NJW-Forum über 2.300 Entscheidungen (im Volltext) einer näheren Analyse unterzogen. Ein Viertel aller Verfahren (99% davon im Eilverfahren) betreffe demnach entweder die Maskenpflicht oder eine Ausgangs-, Kontakt bzw. Einreisebeschränkung. Dies lasse sich damit erklären, dass von diesen Maßnahmen ein Großteil der Bevölkerung betroffen sei und es dementsprechend eine Vielzahl potenzieller Antragsteller gebe. Insbesondere die Häufigkeit der gerichtlichen Maskenstreits sei jedoch gleichermaßen einleuchtend wie irritierend. Einerseits sei gerade die Frage des Masketragens zum Kulminationspunkt der Anti-Corona-Bewegung (insbesondere der sogenannten Querdenker) avanciert. Andererseits handele es sich dabei wohl um die Maßnahme, die im Rahmen der Pandemiebekämpfung am wenigsten in die Freiheitsrechte der Bürger eingreife. Ansonsten seien die meisten Entscheidungen zu den Themen Gastronomie (13%) und Versammlungsrecht (11%) ergangen.

Nur 18% der Entscheidungen "zugunsten der Freiheit"

In der großen Mehrheit der Entscheidungen habe der Gesundheitsschutz die Oberhand behalten. In nur 18% aller Fälle sei "zugunsten der Freiheit" entschieden worden. Lediglich beim Thema "Versammlung" habe es deutlich mehr Entscheidungen pro Freiheit gegeben, nämlich 43%. Da jedoch auch in den vorherigen Jahren die Freiheits-Obsiegens-Quote lediglich bei 16% (2020) und 13% (2019) gelegen habe, halten die Autoren im Ergebnis fest, dass der verwaltungsgerichtliche Freiheitsschutzstandard der Vor-Corona-Zeit habe gehalten werden können. Schließlich falle die Einschätzung des RKI in den Entscheidungsgründen schwer ins Gewicht. Ohne den Verweis auf das RKI seien die Chancen einer Entscheidung zugunsten der Freiheit mehr als drei Mal so groß wie im durchschnittlichen Verfahren. Die (fehlende) Bezugnahme auf das RKI habe mithin einen erheblichen Einfluss auf den Ausgang verwaltungsgerichtlicher Corona-Verfahren. Allerdings sei es problematisch, dass die internationale Covid-19-Spitzenforschung in den verwaltungsgerichtlichen Verfahren bislang kaum eine Rolle gespielt habe. Insofern sprechen sich die Autoren dafür aus, dass die Gerichte bei der Rezeption empirischer Evidenz und wissenschaftlicher Erkenntnisse auf mehr Variation setzen.

Redaktion beck-aktuell, 21. Dezember 2021.