EuGH: Vollstreckung polnischen EU-Haftbefehls könnte nach Justizreformen im Einzelfall abzulehnen sein

Nach den Justizreformen in Polen könnte es zulässig sein, die Vollstreckung eines polnischen EU-Haftbefehls abzulehnen. Halte die Vollstreckungsbehörde nach Vornahme einer zweistufigen Prüfung eine echte Gefahr für gegeben, dass der Betroffene in seinem Grundrecht auf ein unabhängiges Gericht verletzt und damit kein faires Verfahren erhalten werde, müsse sie die Auslieferung ablehnen, entschied der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 25.07.2018 (Az.: C-216/18 PPU).

Widerspruch gegen Übergabe an Polen mit Gefahr unfairen Verfahrens begründet

Der Betroffene des Ausgangsverfahrens ist ein polnischer Staatsangehöriger, gegen den von den polnischen Justizbehörden drei Europäische Haftbefehle zum Zweck der Verfolgung illegalen Drogenhandels erlassen wurden. Nachdem er im Mai 2017 in Irland verhaftet worden war, widersprach er seiner Übergabe an die polnischen Behörden, weil wegen der Reformen des polnischen Justizsystems die echte Gefahr bestehe, dass er in Polen kein faires Verfahren erhalte. Dabei stützte er sich insbesondere auf den begründeten Vorschlag der EU-Kommission vom 20.12.2017, mit dem der Rat aufgefordert wird, auf der Grundlage von Art. 7 Abs. 1 EUV das Bestehen einer eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Rechtsstaatlichkeit durch Polen festzustellen.  

Vorlagegericht: Vollstreckungsablehnung nur nach zweistufiger Prüfung?  

Das Vorlagegericht, der High Court (Hoher Gerichtshof, Irland), wollte vom EuGH im Vorabentscheidungsverfahren wissen, ob im Fall einer möglichen Verletzung des Grundrechts der gesuchten Person auf ein faires Verfahren im Ausstellerstaat eine zweistufige Prüfung wie in Fällen einer Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (BeckRS 2016, 80575) erfolgen müsse oder ob es ausreiche, dass die vollstreckende Justizbehörde Mängel des polnischen Justizsystems feststellt, die eine echte Gefahr der Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren begründeten, ohne prüfen zu müssen, ob die betroffene Person der genannten Gefahr konkret ausgesetzt sei. Ferner wollte der High Court wissen, welche Informationen und Garantien er gegebenenfalls von der ausstellenden Justizbehörde erhalten müsse, um diese Gefahr auszuschließen.  

EuGH: Vollstreckung kann bei echter Gefahr unfairen Verfahrens abgelehnt werden  

Der EuGH hält zunächst fest, dass die Ablehnung der Vollstreckung eines EU-Haftbefehls als Ausnahme vom Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von EU-Haftbefehlen eng auszulegen sei. Anschließend führt er aus, dass eine Justizbehörde von der Vollstreckung eines EU-Haftbefehls ausnahmsweise absehen könne, wenn eine echte Gefahr bestehe, dass die betroffene Person eine Verletzung ihres Grundrechts auf ein unabhängiges Gericht erleidet und damit der Wesensgehalt ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren angetastet wird. Der EuGH betont insoweit, dass insbesondere im Rahmen des Mechanismus des EU-Haftbefehls die Wahrung der Unabhängigkeit der Justizbehörden von größter Wichtigkeit sei, um einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz für den Einzelnen sicherzustellen.  

Echte Gefahr der Grundrechtsverletzung im Ausstellerstaat anhand objektiver und aktueller Angaben zu prüfen  

Widerspreche die betroffene Person ihrer Übergabe an die ausstellende Justizbehörde unter Berufung auf systemische oder allgemeine Mängel, die ihrer Ansicht nach die Unabhängigkeit der Justiz im Ausstellungsmitgliedstaat und ihr Grundrecht auf ein faires Verfahren beeinträchtigen könnten, müsse die vollstreckende Justizbehörde in einem ersten Schritt auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben beurteilen, ob eine echte Gefahr der Verletzung dieses Rechts im Ausstellungsmitgliedstaat gegeben ist, die mit einer mangelnden Unabhängigkeit der Gerichte dieses Mitgliedstaats aufgrund solcher Mängel zusammenhängt. Dabei seien die Informationen in dem begründeten Vorschlag der Kommission vom 20.12.2017 als besonders relevante Angaben anzusehen, so der EuGH.  

Anforderungen an Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichte  

Der EuGH weist auch darauf hin, dass das Erfordernis richterlicher Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zwei Aspekte umfasse: So müssten die Gerichte erstens ihre Funktionen geschützt vor Interventionen oder Druck von außen in völliger Autonomie ausüben und zweitens unparteiisch sein. Diese Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit setzten voraus, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der Gerichte sowie die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für Enthaltung, Ablehnung und Abberufung ihrer Mitglieder gibt. Das Unabhängigkeitserfordernis verlange außerdem, dass die Disziplinarreglung für die Mitglieder von Gerichten die erforderlichen Garantien aufweise, damit jegliche Gefahr verhindert werde, dass sie als System zur politischen Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen eingesetzt wird.  

Prüfung konkreter Gefahr für Betroffenen zwingend anzuschließen  

Stelle die vollstreckende Justizbehörde in diesem ersten Prüfungsschritt fest, dass im Ausstellungsmitgliedstaat eine echte Gefahr der Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren besteht, müsse sie in einem zweiten Schritt konkret und genau prüfen, ob es unter den gegebenen Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die gesuchte Person nach ihrer Übergabe einer solchen Gefahr ausgesetzt sein werde. Diese konkrete Prüfung ist laut EuGH auch dann geboten, wenn wie im vorliegenden Fall die Kommission in Bezug auf den Ausstellungsmitgliedstaat einen begründeten Vorschlag erlassen habe, der darauf gerichtet ist, dass der Rat die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte durch diesen Mitgliedstaat feststelle, und die vollstreckende Justizbehörde ihrer Ansicht nach über Angaben verfügt, die systemische Mängel im Hinblick auf diese Werte belegen könnten.  

Auswirkungen der Mängel auf zuständige Gerichte und für Betroffenen zu untersuchen  

Um zu prüfen, ob für die gesuchte Person eine echte Gefahr besteht, müsse die vollstreckende Justizbehörde untersuchen, inwieweit die systemischen oder allgemeinen Mängel sich auf der Ebene der Gerichte auswirken könnten, die für den Fall der gesuchten Person zuständig sind, erläutert der EuGH. Ergebe diese Untersuchung, dass die besagten Mängel die betreffenden Gerichte berühren können, müsse die vollstreckende Justizbehörde dann beurteilen, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die betroffene Person in Anbetracht ihrer persönlichen Situation sowie der Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat und des Sachverhalts, auf denen der EU-Haftbefehl beruht, einer echten Gefahr ausgesetzt sein werde, dass ihr Grundrecht auf ein unabhängiges Gericht verletzt und damit der Wesensgehalt ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren angetastet wird.  

Vollstreckungsbehörde muss bei Ausstellerbehörde zusätzliche Informationen einholen  

Laut EuGH muss die vollstreckende Justizbehörde zudem die ausstellende Justizbehörde um alle zusätzlichen Informationen ersuchen, die sie für notwendig hält, um das Bestehen einer solchen Gefahr zu beurteilen. Dabei könne die ausstellende Justizbehörde jeden objektiven Gesichtspunkt betreffend etwaige Änderungen der Bedingungen des Schutzes der Garantie richterlicher Unabhängigkeit mitteilen, der das Bestehen der besagten Gefahr für die betroffene Person ausschließen könne. Halte die vollstreckende Justizbehörde nach Prüfung all dieser Punkte eine echte Gefahr für gegeben, dass die betroffene Person im Ausstellungsmitgliedstaat eine Verletzung ihres Grundrechts auf ein unabhängiges Gericht erleidet und damit der Wesensgehalt ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren angetastet wird, müsse sie davon absehen, dem Europäischen Haftbefehl gegen diese Person Folge zu leisten. 

EuGH, Urteil vom 25.07.2018 - C-216/18

Redaktion beck-aktuell, 25. Juli 2018.